Siegen. Von Fassbinder zum Tatort: Eva Mattes ist eine der bedeutendsten Schauspielerinnen. Und Marlene Dietrich eine Ikone.

Das sind diese Abende, an denen es sich lohnt, sich vom heimischen Wohnzimmer zu verabschieden, durch garstigen Regen zu fahren, um im Apollo in Theatererlebnis der besonderen Art zu genießen.

Sie hat noch einen Koffer in Berlin

Im Mittelpunkt stehen zwei große Frauen: Eva Mattes, eine der bedeutendsten deutschen Schauspielerinnen des Films, Fernsehens und auf der Bühne, Rezitatorin, Sängerin, Hörbuch-Sprecherin. Schon vor mehr als 50 Jahren debütierte sie in Rainer Werner Fassbinders Film „Wildwechsel“, spielte danach Hunderte weitere Rollen, darunter 14 Jahre lang die Tatort-Kommissarin Klara Blum. Mit ihrem aktuellen Bühnenprogramm „Wiedersehen mit Marlene“ lässt Eva Mattes das bewegte Leben von Marlene Dietrich im wahrsten Sinn des Wortes Revue passieren: Durch Texte ihrer Autobiografie „Nehmt nur mein Leben“ und den „Nachtgedanken“, die sie nach ihrem vollständigen Rückzug aus der Öffentlichkeit verfasst hatte und die dann von Tochter Maria posthum veröffentlicht wurden.

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Am Anfang steht die Stimme. Die von Marlene Dietrich mit ihrem berühmten „Ich hab noch einen Koffer in Berlin“, aufgenommen 1954, als „die Dietrich“ 53 Jahre alt war und den bewegtesten Teil ihres Lebens schon hinter sich gelassen hatte. Etwa ihre dank ihrer wohlhabenden Eltern beste Erziehung. Aber das ständige Gefühl von Einsamkeit, das sie auch „Heimweh nach dem Traurig sein“ nennt, bleibt bestehen. Sicherlich auch durch den Tod ihres Vaters verursacht, der im ersten Weltkrieg an der Ostfront verwundet wird und stirbt. In einem Internat in Weimar wird dann „Goethe mein Vater, Rainer Maria Rilke mein Gott“

Sprech-, Rezitations- und Gesangskunst in Vollendung

Wie Eva Mattes diese Erinnerungen Marlene Dietrichs liest, ist Sprech- und Rezitationskunst in Vollendung. Jeder Vokal klingt, jeder Konsonant sitzt, jede Betonung ist an die richtige Stelle gesetzt und nie dramatisch überzeichnet. Hinzu kommt ihre Gesangskunst, geprägt durch ihre warme, sonore Alt-Stimme. Ihre Lieder im ersten Teil des Abends: Fröhlich, sogar ausgelassen. Etwa im Duett „Wenn die beste Freundin mit der besten Freundin“.

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Bei „Kinder, heut Abend da such ich mir was aus, einen Mann“ tanzt sie. Irmgard Schleier, die dieses Programm entwickelt hat, lässt immer wieder auch die passenden Bilder einblenden: Etwa die von Marlenes erster Filmrolle „Der blaue Engel“, von der sie sogar Casting- und Probenausschnitte in bewegten Bildern aufgetrieben hat, und des Regisseurs Josef von Sternberg, ihrem großen Förderer. Er ist auch einer der vielen Männer, die im Leben Marlenes eine mehr oder weniger große Rolle spielen: Neben Erich Maria Remarque, dem Autor des Anti-Kriegs-Epos „Im Westen nichts Neues“, Jean Gabin, „meine Lebensliebe“, dem Komponisten Burt Bacharach, der sie auf die Bühne brachte, dem charismatischen Lebemann Ernest Hemingway, und, und, und…

Im zweiten Weltkrieg amerikanische Uniform

Rudolf Sieber allerdings, Ehemann und Vater ihrer Tochter Maria, findet in ihren Erinnerungen kaum einen Platz. Vielleicht auch, weil es zwischen Mutter und ihrer Tochter, ebenfalls Schauspielerin und inzwischen 98 Jahre alt, lebenslange Spannungen gibt. Die bestehen auch fort, als die Filmikone die letzten Lebensjahre bis zu ihrem Tod 1992 in ihrer Lieblingsstadt Paris in selbstgewählter Einsamkeit verbringt.

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Auch das und vieles mehr beschreibt der Abend neben den Texten musikalisch: Etwa durch das melancholische „La vie en rose“, das Marlene Dietrich für ihre Freundin Edith Piaf gesungen hatte und ein Welterfolg wurde. Ihre Liebe zu Amerika durch den hinreißend leichtfüßigen Cole-Porter-Swing „The Laziest Gal in Town“, aber auch Lieder jüdischer Partisanen aus dem Warschauer Ghetto. Ihre Beziehung zu ihrem Geburtsland bleibt immer gespalten: Viele Deutsche nahmen es ihr übel, im zweiten Weltkrieg eine amerikanische Uniform getragen und damit „auf der falschen Seite“ gestanden zu haben. „Mein Herz blutet für die Opfer von Terror und Habsucht“, rezitiert Eva Mattes aus den Erinnerungen von Marlene Dietrich, die sicherlich nicht ahnte, dass dieser Satz einmal wieder so dramatisch aktuell werden könnte.

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Dreistimmig mit Akkordeon-Begleitung

Alles ist gesagt, Eva Mattes klappt nach einem langen, aber in keiner Sekunde langatmigen, sondern fesselnden, ergreifenden Abend das Textbuch zu. Zu der Faszination von „Wiedersehen mit Marlene“ tragen auch die beiden Vokal-Kolleginnen Babette Jürgens und Petra Borel bei. Ihr mit Eva Mattes präsentiertes dreistimmiges „Guter Mond, du gehst so stille“ frei nach einem Arrangement der Comedian Harmonists, gehört zu den musikalischen Höhepunkten. Und vor allem auch die Begleitkunst von Siegfried Gerlich am Flügel und Dariusz Swinoga mit seinem Akkordeon, der auf seinem Instrument auch Perkussives zaubert. Die letzte Stimme gehört jedoch der ebenso großen wie rätselhaften Marlene Dietrich: Mit „Sag mir, wo die Blumen sind“, dem weltweit wichtigsten Lied gegen den Kriegswahnsinn, geschrieben vom amerikanischen Folk-Sänger und Pazifisten Pete Seeger, aufgenommen in London und Paris und in französischer, englischer und deutscher Sprache.