Siegen. 400 Siegener geben Einblick in ihr Seelenleben: Sie erzählen Angst und Einsamkeit, von Sex und Gewalt – und auch vom autistischen Kater
„Keine Ahnung, was ich als nächstes machen soll. Jede Entscheidung fühlt sich wie die falsche an.“ – „Alte, weiße, pessimistische Männer machen mir Angst.“ – „Dass ich an Silvester keinen zum Feiern finde.“ – „Ich kann meine Sorge nicht erzählen. Sonst muss ich weinen.“– „Den Traum nicht versucht haben zu erreichen. Ein ungelebtes Leben zu haben.“ – „Ich habe nicht das Gefühl, dass ich da noch mitkomme, da die Dinge und die Technik sich so schnell verändern und ich immer wieder die Kontrolle darüber verliere. Ich vermisse jemanden, der die Zeit hätte, mich da mitzunehmen.“
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Fünf Raben sitzen mit hängenden Köpfen im Kreis. Auf Müllsäcken. Im Keller des Rathauses, vor dem Standesamt, ausgerechnet. Wo Liebende sich die Treue versprechen, reden sie über Sorgen. Echte Sorgen, menschliche Sorgen, mehr als 400 davon. Über Angst vor Einsamkeit, Verlust eines geliebten Menschen, vor Trennung und Tod, Krieg und Armut. Aber auch vor Sex mit extrem starken Schmerzen während der Periode, über schlechte Busverbindungen oder um den „autistischen Kater“, der bei Kälte viel zu lange draußen unterwegs ist und dann erstmal aufgetaut werden muss. Dass jemand anderes den Rekord beim Box-Automaten in der City-Galerie knackt.
„Mein Sohn braucht dringend Hilfe. Aber wir finden keinen Therapieplatz. Selbst die Wartelisten sind voll.“
Sorgen-Archiv Siegen: „Wurde im Zug von zwei Omas gemobbt, weil wir Ausländer sind“
Diese Sorgen haben Jenny Kropp und Alberta Niemann, Künstlerinnenduo „FORT“ aus Berlin, „eingesammelt“ – Menschen, die in Siegen auf der Straße unterwegs waren, haben sie ihnen erzählt. Und sie haben eine Installation daraus gemacht: Das „Archiv der Sorgen“, zu sehen und vor allem zu hören von Donnerstag, 26. Oktober, bis Freitag, 8. Dezember, im Untergeschoss des Rathauses Oberstadt. Werktags ab 7.30 Uhr.
„Ich wurde im Zug gemobbt von zwei Omas. Weil wir Ausländer sind. Sie sagten: Raus aus Deutschland.“
Über sprechende Raben auf Müllsäcken mag man sich streiten; über das, was die künstlichen Vögel mit den Stimmen professioneller Schauspielerinnen und Schauspieler erzählen, nicht. Da brechen die allerintimsten Ängste von Siegenerinnen und Siegenern hervor, mal eindeutig, mal vage. Langatmig oder einsilbig. Weitgehend ungefiltert jedenfalls: Ein syrischer Junge, 12 Jahre, mit seinem Vater geflüchtet, hat seine Mutter seit Jahren nicht gesehen. Drei seiner Geschwister sind tot. Ein anderer Syrer, Bauingenieur, findet keinen Job – sein Abschluss wird nicht anerkannt. Noch mehr quält den Mann, dass er keinen Anschluss findet in der fremden Stadt, in der fremden Kultur, egal was er versucht. Eine gebürtige Kolumbianerin, die allererste Gesprächspartnerin, stellt fest: „Hier behalten alle ihren Kummer für sich.“ Sie möge Männer, die weinen. Diese Worte kann Jenny Kropp auswendig. „In Siegen gibt es sehr viele Freikirchen“, erzählt die Frankfurterin, 45, die eine Hälfte von „FORT“: Viele sorgen sich um Mitmenschen, die nicht an Gott glauben. Dass sie in die Hölle kommen.
Archiv der Sorgen Siegen: „Werde wieder gemobbt, wenn ich mich als bisexuell oute“
„Ich suche eine Freundin, ´ne Dünne. Das Problem ist, ich kann nicht lesen, nicht schreiben, nicht rechnen.“
Jenny Kropp und Alberta Niemann waren überrascht, wie offen die Menschen von ihren Sorgen und Ängsten erzählten. Anonym zwar, aber doch Fremden auf der Straße. „Das hat uns sehr berührt“, sagt Jenny Kropp. Viele Teilnehmende hätten sich richtig gefreut; es habe ihnen sehr geholfen, dass da einfach mal jemand zuhörte. Während auf Social Media die vermeintlichen Sonnenseiten des eigenen Lebens präsentiert werden, verschwinden die düsteren Seiten nicht.
„Ich mache mir Sorgen darüber, dass ich wieder gemobbt werde, wenn ich mich an meiner Schule als bisexuell oute.“
„Gleich am ersten Tag wurde geweint“, erzählt Jenny Kropp, es sei sehr oft sehr emotional geworden in diesen drei trüben Dezember-Wochen, in denen sie Ende 2022 die Sorgen der Menschen entgegennahmen; da, wo gerade im Advent viele unterwegs sind: An der Oberstadtbrücke, mitten in der Innenstadt hatten sie eine Bude aufgebaut. Zusammen mit Studierenden der Uni Siegen nahmen die beiden Künstlerinnen die Sorgen der Menschen entgegen, ließen sie aufschreiben oder aufzeichnen. Sie gingen auf die Menschen zu, suchten Blickkontakt, oder warteten einfach ab, bis sie kommen und fragen, was denn das eigentlich sei, ein Archiv der Sorgen. Es wuchs von Tag zu Tag.
„Ich sorge mich um mich. Um mein Glück. Um meine Gesundheit. In liebevoller Selbstfürsorge nach 33 Jahren Partnerschaft und Familie nun Single-Frau, muss ich das Sorgen neu erlernen – für mich.“
Archiv der Sorgen aus Siegen: „Komme gerade knapp über die Runden“
„Es wurde aber auch viel gelacht“, sagt Jenny Kropp. Nicht mehr allein mit den Sorgen zu sein, das verbinde und befreie, als ob eine Last von den Leuten gefallen sei, wenigstens ein bisschen davon. „Ein sehr schöner Nebeneffekt.“ Viele Dankesbriefe hätten sie im Nachgang erhalten mit Worten wie „Es war toll, das mal aufzuschreiben“. Der Wunsch, dass es so etwas dauerhaft gebe, sei öfter geäußert worden, vielleicht von der Stadt. Bei Sorgentelefonen komme man oft nicht durch.
„Ich finde es sehr bedenklich, wie die Gesellschaft sich verändert. Die Menschen werden egoistisch und aggressiv.“
Fast ein Jahr später sind die Sorgen aus der Mitte der Stadtgesellschaft wieder dort angekommen: Im Rathaus, im symbolischen Herzen der Stadt, sagt Alberta Niemann. Das Projekt ist Teil des Konzepts „Artist in Residence Siegen“ (AIR), mit dem die Uni anlässlich ihres 50-jährigen Bestehens im Jahr 2022 und zusammen mit dem Museum für Gegenwartskunst (MGK) Wissenschaft, Kultur und Bevölkerung zusammenbringen wollte, erklärt Rektor Prof. Holger Burckhart. Die beiden Künstlerinnen hatten zwei Semester einen Lehrauftrag an der Hochschule, kuratierten und entwickelten die Sorgen, das Einsprechen der Texte, erarbeiteten die technische Umsetzung mit den elektronisch gesteuerten Rabenfiguren, sogenannten Animatronics.
„Ich mache mir Sorgen um die steigenden Preise (...) Da komme ich gerade knapp über die Runden. Aber jetzt ist auch die Zeit, wo es Spendenbriefe gibt und das kann ich jetzt nicht mehr. Das kann ich jetzt wirklich nicht mehr.“
Siegener Archiv der Sorgen: „Ich bin Russe und bei Russen gibt es Gewalt in der Familie“
„Die Idee hatten wir schon länger in der Schublade“, erinnert sich Alberta Niemann, 41. Wie so viele Menschen, gerade im Kulturbetrieb, stürzte die Corona-Pandemie auch „FORT“ in eine persönliche und auch künstlerische Krise, „wir haben uns monatelang im Kreis gedreht“. Es ging um eine Ausstellung, sie kamen auf keinen grünen Zweig, bis sie begannen, ihre eigenen Gespräche aufzuzeichnen. Statt Kunstwerke wurden bei der Ausstellung Raben gezeigt, die wie sie selbst zuvor alles zerreden und zerpflücken und nicht weiterkommen, erzählt die gebürtige Bremerin. Sie drängten raus aus ihrem Atelier, ihrer Blase, zu den Menschen, „viel spannender“, stellten fest, dass Sorgen und Ängste ein großes Thema geworden waren und nicht weniger werden. „Es war die Sehnsucht, wieder Kontakt zu den Leuten zu haben, zum Publikum, aber nicht nur zu Kunstinteressierten“, sagt die Frankfurterin Jenny Kropp. Auch und gerade zu denen, die sonst keinen rechten Zugang zu Kunst haben.
„Bei mir ist das Problem, ich bin Russe und bei Russen gibt es Gewalt in der Familie. Das trifft mich und meine Mutter, aber vor allem meine Mutter. Mein Vater ist ein psychisches Wrack. Völlig kaputt. Und ich kann nicht ausziehen, weil ich meine Mutter nicht im Stich lassen kann.
Insofern: Im Rathaus als symbolischen „Herz der Stadt“ erreicht die Installation nun auch Menschen, die aus ganz anderen Gründen dort hin kommen als wegen Kunst. Eine Stunde lang sprechen die Raben über ihre Sorgen, mal sinnierend, dann wieder fast im Dialog, unterbrechen sich, einmal singen sie auch im Chor. Irgendwo unter diesen 400 sind auch die eigenen Sorgen ganz nah, sagt Alberta Niemann, „da findet man die eigenen Sorgen in denen der anderen wieder.“ Auch in den „fremden“ Ängste, die weit weg zu sein scheinen, die vielleicht zunächst lächerlich wirken und es ganz und gar nicht sind. „Eine Mini-Sorge“, sagt eine Frau einmal. Aber ihr mache das eben oft Kummer.
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„Niemand hört mir zu. Meine Mutter ist meine größte Mobberin.“
„Das ist ein Schnitt durch die ganze Gesellschaft“, sagt MGK-Direktor Thomas Thiel, vom Ukraine-Krieg über Gender-Fragen bis Gewalt oder Alkoholismus in der Familie. „Das beeindruckt und berührt. Jedenfalls lässt es mich nicht los.“