Siegen. Kitas fehlen Fachkräfte – das führt zu gekürzten Betreuungszeiten. Die AWO in Siegen-Wittgenstein wirbt für den Beruf. Und macht ein Angebot.
„Wir machen uns große Sorgen“, sagt Laila Mahmood. Sie verantwortet als Bereichsleitung des AWO-Kreisverbandes Siegen-Wittgenstein/Olpe die Kindertageseinrichtungen. Das Thema „Fachkräftemangel“ hat auch den größten Kita-Träger im Kreisgebiet mit seinen 60 Einrichtungen und rund 800 Mitarbeitenden nicht überraschend ereilt. Die Zahl der zu betreuenden Kinder steigt, die gewünschten Betreuungszeiten werden länger, und auf der anderen Seite reißen Rente und Familienzeiten Lücken in die Teams. Lücken, die so einfach nicht zu schließen sind. Erzieherinnen und Erzieher sind vollbeschäftigt, „es gibt keinen Markt“.
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Das ist die Lage
Das Schlimmste, was berufstätigen Eltern passieren kann, ist, dass ihre Kita in die Knie geht. Dass morgens niemand mehr aufmacht, weil auch die verbliebenen Kräfte krank sind. Oder dass einzelne Gruppen geschlossen werden oder die tägliche Betreuungszeit vorzeitig beendet wird, weil Personal fehlt. „Wir versuchen, berufstätigen Eltern nach wie vor ein verlässliches Betreuungsangebot zu bieten,“ sagt Laila Mahmood. Anders als kleine Träger kann die AWO mit ihrer Vielzahl von Einrichtungen noch eine Weile Ausfälle mit Unterstützung von Nachbar-Kitas überbrücken. Aber auch das ist endlich und auch jetzt schon nicht immer möglich. Ihre Kolleginnen in den Einrichtungen vor Ort halten die Fahne trotz aller Widrigkeiten weiter aufrecht. Obwohl auch die Pandemie und ihre Folgen weiterhin an allen Beteiligten des Kita-Alltags nagen.
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Krankheitswellen nach der Pandemie
„So ganz normal geht es noch nicht weiter“, berichtet Anika Autschbach, Fachberatung des AWO-Kreisverbandes Siegen-Wittgenstein/Olpe. „Angebote und Projekte, die während der Pandemie nicht zugelassen waren, müssen erst wieder hochgefahren werden. Kinderschutz rutscht viel häufiger in den Fokus der pädagogischen Arbeit. Krankheitswellen werden anscheinend nachgeholt – auch das Immunsystem von Kindern und Mitarbeiterinnen ist noch nicht wieder auf normalem Level.“ So müssen die Teams in den Kitas den geplanten Alltag immer wieder flexibel umplanen und neu organisieren. Die Belastung des Personals steigt, was zu Unzufriedenheiten führt: „Der Fokus unserer pädagogischen Arbeit liegt weiter auf den Kindern“, stellt Anika Autschbach fest, „sie sind das wertvollste Gut, das eine zukunftsfähige Gesellschaft hat.“ Deshalb hat auch die AWO schon zum scharfen Schwert gegriffen und macht öffentlich auf die prekäre Personalsituation in den Kitas aufmerksam. Auch das Jugendamt ist darüber informiert, dass die personellen Ausfälle zu Angebotseinschränkungen, aber auch zu Ereignissen, die das Kindeswohl gefährden, führen können. Eine solche Meldung ist formell im Paragrafen 47 des Sozialgesetzbuchs 8 geregelt.
Im Schnitt bleibt eine Stelle 117 Tage unbesetzt
117 Tage dauert es im Schnitt im Bezirk der Arbeitsagentur Siegen, um eine Stelle im Sozial- und Erziehungsdienst zu besetzen. Im Kreis Siegen-Wittgenstein ist eine Kita-Gruppe für Zwei- bis Sechsjährige im Schnitt mit 21 Kindern belegt, wobei für je 7,6 Kinder – rein statistisch – eine Fachkraft zur Verfügung steht. Gefordert sind dagegen, laut Ländermonitor Frühkindliche Bildung der Bertelsmann-Stiftung, eine Kraft je 4,9 Kinder und eine Gruppenstärke von 14 bis höchstens 18 Kinder. Hoch gerechnet führt das dazu, dass landesweit 76,8 Prozent aller Kita-Kinder in „Gruppen mit nicht kindgerechtem Personalschlüssel“ betreut werden. Oder umgekehrt, dass weniger als ein Viertel der Kita-Kinder die Betreuung bekommen, die für sie optimal wäre.
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Das sind Lösungen
Was tun? Multiprofessionelle Teams halten die Kitas am Laufen. Kinderkrankenschwestern und –pfleger, Heilpädagoginnen und Heilerziehungspflegerinnen, aber auch Studierende der sozialen Arbeit oder anderen pädagogischen Studiengängen arbeiten Seite an Seite mit den Erzieherinnen. Das füllt nicht nur Lücken, sondern macht auch Sinn, um zum Beispiel ganz kleine Kinder oder Kinder mit Behinderung zu versorgen. „Jeder kann seine Stärken einbringen“, sagt Laila Mahmood. Diese Multiprofessionalität bedeutet aber auch, dass manche pädagogischen und entwicklungspsychologischen Prozesse in der Einarbeitung vermehrt thematisiert werden müssen. Beispielsweise ist es für eine gelernte Erzieherin meist ein Einfaches, den Überblick über die motorische und sprachliche Entwicklung von bis zu 25 Kindern gleichzeitig zu behalten. Erzieherin, nicht Erzieher, meistens: 2021 waren im Bezirk des Stadtjugendamts Siegen 97,7 Prozent der Fachkräfte weiblich, im Bezirk des Kreisjugendamts 95,6 Prozent.
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Angebot an Alltagshelfer und Ergänzungskräfte
Weil es nun nicht gerade so ist, dass Kinderkrankenschwestern nicht auch von Krankenhäusern händeringend gesucht werden, geht die AWO einen weiteren Schritt – und bildet selbst aus. An ihrer Akademie Neun 10 in Deuz können sich bisherige „Ergänzungskräfte“, von Hause aus zum Beispiel Sozialassistenten, aber auch Ergotherapeutinnen, Kulturpädagoginnen, Logopädinnen oder Musikpädagoginnen, qualifizieren und auf die externe Erzieher-Prüfung vorbereiten. „Es ist uns eine Freude, dass sich die Kolleginnen über ihre ursprüngliche Ausbildung hinaus qualifizieren und Interesse am Beruf der Erzieherin mitbringen“, sagt Laila Mahmood und freut sich auf die Verstärkung. Eine Chance wird das Angebot aber auch den „Alltagshelfern“ bieten, die gemäß dem aktuell laufenden Bundesprogramm noch bis 31. Juli die Kita-Gruppen verstärken – sie wurden nach Ausbruch der Pandemie an Bord genommen, um die vielen zusätzlichen Aufgaben zum Gesundheitsschutz wahrzunehmen. Sie sind als Berufsfremde in die Kitas gekommen und haben jetzt ein sehr genaues Bild vom Alltag in den Einrichtungen. Über die damit gemachten positiven Erfahrungen freuen sich Laila Mahmood und ihre Kolleginnen in den Einrichtungen und hoffen auf eine Verstetigung dieses Programms.
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Der Standardweg zum Erzieherinnen-Beruf ist lang und steinig: Vor Beginn der dreijährigen Ausbildung (zwei Jahre Schule, ein Anerkennungsjahr) muss das Fachabitur oder eine abgeschlossene Berufsausbildung, meist zur Kinderpflegerin, vorgelegt werden. Macht zusammen bis zu fünf Jahre. „PiA“, die „praxisintegrierte Ausbildung“, ist eine Alternative. Die angehenden Fachkräfte sind in den drei Jahren wie Azubis bei den Kita-Trägern angestellt und werden somit für ihre Arbeit auch schon bezahlt. Am Berufskolleg AHS in Siegen wird gerade der erste Jahrgang fertig, andere lernen in Olpe oder Marburg. Auch für Bad Berleburg wünscht sich Laila Mahmood eine solche PiA-Klasse. Allein schon die lange Anfahrt nach Siegen kann nämlich ein Grund sein, sich das mit der Berufswahl noch einmal zu überlegen.
Familie und Beruf unter einem Hut
Die AWO wirbt für die Arbeit in den Kitas, so startet bald eine groß angelegte Öffentlichkeitskampagne. „Es ist ein vielfältiger Beruf“, sagt Anika Autschbach, „eine sehr verantwortungsvolle, aber auch sehr dankbare Aufgabe – was man gibt, kriegt man auch sofort zurück.“ Machbar ist vieles, um Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. „Wir finden für jeden eine individuelle Lösung.“ Wer sie will, bekommt die unbefristete Vollzeitstelle – mit befristeten Teilzeitjobs geht auch die AWO längst gar nicht mehr erst auf den Markt.
Was die weiteren Rahmenbedingungen angeht, sind der AWO wie den anderen freien Trägern die Hände gebunden – letztlich arbeiten sie im Auftrag des Jugendamtes. „Wir brauchen ein Verständnis für die wichtige grundlegende Bildungsarbeit, welche in der frühen Kindheit in den Einrichtungen geleistet wird“, sagt Laila Mahmood. „Und mehr Wertschätzung der Gesellschaft“, fügt Anika Autschbach hinzu.
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