Siegen. „Sieh das mal aus meiner Perspektive!“: Den Rat nimmt das Junge Theater Siegen wörtlich. Bei „Orlando*“ wechseln die Figuren ständig den Körper.

Die alte Empfehlung, die Welt gelegentlich durch die Augen eines anderen Menschen zu betrachten, nimmt das Junge Theater Siegen in seinem Stück „Orlando*“ sehr wörtlich. Die Charaktere wandern fortlaufend von einem Körper in den nächsten, bis am Ende ziemlich viele Personen in einem einzigen Körper stecken und dabei zwangsläufig eine Menge übereinander lernen – und über Identität, Individualität und Geschlechterrollen insgesamt.

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„Es ist kompliziert“, räumt Regisseur Torben Föllmer beim Versuch ein, die Handlung im Gespräch zu vermitteln. Wesentlich leichter wird es, wenn man das Stück einfach betrachtet – sofern man die Grundprämisse hinnimmt. „Ich wache gerade alle paar Momente in einem anderen Körper auf“, sagt eine der Figuren. Und fügt hinzu: „Was ist schon Identität? Wir erwachen doch eh jeden Tag als jemand Anderes.“

Schwarze Kleidung, schwarze Mützen: In „Orlando*“ des Jungen Theaters Siegen treten zeitweise fast alle Mitwirkenden als Erzähler*in auf: Sie sprechen die Textpassagen im Chor.
Schwarze Kleidung, schwarze Mützen: In „Orlando*“ des Jungen Theaters Siegen treten zeitweise fast alle Mitwirkenden als Erzähler*in auf: Sie sprechen die Textpassagen im Chor. © WP | Florian Adam

Siegen: Junges Theater dreht Idee aus „Orlando“ von Virginia Woolf weiter

Jede Hauptfigur einer Szene findet sich in der Folgeszene im Körper eines anderen Charakters wieder, ohne jedoch dessen Geist zu verdrängen. Mehrfach geht es dabei zwischen den Geschlechtern hin und her – deshalb ist das * auch Bestandteil des Titels „Orlando*“. Geschrieben wurde das Stück von Marisa Wendt, die mit Torben Föllmer auch im Theaterprojekt „Salon Ute“ zusammenarbeitet. Vorlage war der Roman „Orlando“ von Virginia Woolf aus dem Jahr 1928, dessen männlicher Protagonist sich eines Tages plötzlich im Körper einer Frau wiederfindet, dann einen Zeitraum von rund 300 Jahren durchlebt und sich mit den Rollen, Erwartungen und Beschränkungen auseinandersetzen und arrangieren muss, denen Frauen seitens der Gesellschaft trotz aller Veränderungen ausgesetzt waren und sind.

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In „Orlando*“ gibt es nun nicht nur diesen einen Persönlichkeitstransfer, sondern mehrere. Ramona Sayeed, die Torben Föllmer bei der Inszenierung assistiert, vergleicht es mit Matrjoschkas, den ineinander verschachtelten russischen Holzpuppen. Es geht dabei nicht um eine dissoziative Persönlichkeitsstörung, wie Torben Föllmer betont. Es geht um einen Rahmen, innerhalb dessen Auseinandersetzung mit Identität stattfinden kann – ein Thema, dass vor allem junge Menschen auf dem Weg des Erwachsenwerdens seit jeher beschäftigt, ob nun bewusst oder unbewusst. Das Ensemble ist aus einem von Torben Föllmer, selbst ausgebildeter Schauspieler, geleiteten Kurs des Jungen Theaters Siegen hervorgegangen, und die Mitwirkenenden, alle im Alter zwischen 20 und 26 Jahren, haben sich als Gruppe für gerade diesen Stoff entschieden.

Im Stück „Orlando*“ des Jungen Theaters Siegen stecken mit der Zeit immer mehr Figuren gemeinsam in immer neuen Körpern. Veranschaulicht wird das durch ein spezielles Kleidungsstück: Ein Netz aus miteinander verbundenen grauen T-Shirts.
Im Stück „Orlando*“ des Jungen Theaters Siegen stecken mit der Zeit immer mehr Figuren gemeinsam in immer neuen Körpern. Veranschaulicht wird das durch ein spezielles Kleidungsstück: Ein Netz aus miteinander verbundenen grauen T-Shirts. © WP | Florian Adam

Junges Theater Siegen: Mit Genderfragen gehen junge Menschen oft offener um

Der Regisseur, 37 Jahre alt, stellt in der Arbeit am Stück durchaus selbstkritisch einen Generationenunterschied fest. Die Genderthematik ist nicht das Hauptmotiv, aber sie macht einen wichtigen Block aus. Im Umgang damit beobachtet er bei den Darstellerinnen und Darstellern „eine größere Natürlichkeit“, sie seien „aufgeschlossener“, hätten ihn während der Proben auch auf Vorstellungen im Zusammenhang mit Geschlechterbildern hingewiesen, die er aus ihrer Sicht vielleicht noch einmal überdenken sollte. So, wie Torben Föllmer davon berichtet, scheint ihn das selbst überrascht zu haben, doch den Impuls griff er auf. Seine Einschätzung und Hoffnung, auch aufgrund dieser eigenen Erfahrungen: „dass viele Leute solche Anregungen mit nach Hause nehmen können“.

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Es stehen aber auch andere grundsätzliche Fragen von Identität im Fokus. „Was macht einen Menschen sympathisch, was macht ihn unsympathisch?“ gibt Torben Föllmer ein Beispiel. Zusätzlich zum bekannten Mechanismus, über die Reaktionen der Umwelt von außen einen Spiegel vorgehalten zu bekommen, eröffnet „Orlando*“ mit der Verschachtelung der Charaktere auch „eine neue Reflexionsmöglichkeit“: Denn ein Teil des Außens ist auf einmal innen. Deutlich wird das etwa am Beispiel der Figur Christian. Der ist mit einer Frau verheiratet, hat dennoch ein Date mit der transidenten Gogo-Tänzerin Estelle und tritt dieser mit einer von seiner konservativen Einstellung geprägten Frage nach ihren Geschlechtsteilen zu nahe. Als Estelle in der nächsten Szene mit in seinem Körper und Geist steckt, er ihre Gedanken, Gefühle und Erfahrungen auf einmal teilt, ändert sich seine Perspektive: „Heißt das, ich muss mich jetzt selbst scheiße finden?“

Junges Theater Siegen will mit „Orlando*“ vor allen Dingen Fragen stellen

Mit seinen Fragezeichen ist Christian nicht alleine. Konkrete Antworten formuliert die Inszenierung nicht. „Es werden eher Fragen gestellt“, sagt Ramona Sayeed. Die zu finden, steht dem Publikum dann frei.

Zu sehen ist „Orlando*“ als Werkstattaufführung am Samstag und Sonntag, 6. und 7. Mai, ab 19.30 Uhr im Lyz. Tickets über jungestheatersiegen.de

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