Siegen. Siegener Ratssitzungen werden live im Netz gestreamt. Die meisten finden’s gut, manchen Ratsmitgliedern passt’s gar nicht. Deutliche Worte fallen
Ratssitzungen werden weiterhin live im Internet übertragen – zumindest für ein weiteres Jahr: Einstimmig folgte der Rat dem Antrag der CDU, die seit April laufende Testphase zu verlängern. Laut Fraktionschef Marc Klein habe man „sehr kontrovers diskutiert“. Damit zumindest leben konnten die Befürworter – und auch die, die die Zuschauerzahlen als nicht ausreichend für eine Fortsetzung des Streamings empfanden, zumindest nicht für 25.000 Euro im Jahr.
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Der CDU-Stadtverordnete Benjamin Grimm sprach sich vehement gegen eine weitere Liveübertragung aus. Zwölf Monate seien eine lange Zeit, 80 bis 100 Zuschauer nicht gerade viel, wenn man davon „Parteifunktionäre“ abziehe, blieben vielleicht noch 20 übrig. Dafür solle man besser keine 25.000 Euro ausgeben – zumal viele andere Kommunen das Angebot wieder abgeschafft hätten, weil es weder Zielgruppe, noch Mehrwert für eine Bürgerbeteiligung gebe. „Kaum eine Stadt erreicht ein Prozent der Bevölkerung – mehr als 99,9 Prozent der Siegener wollen nicht zuschauen.“ Dass manche Ratsmitglieder den Livestream für ihre Selbstinszenierung nutzen würden, während andere sehr zurückhalten geworden seien, sei ebenfalls keine gute Entwicklung.
Auch für Michael Schwarzer (AfD) sei es eine „Tatsache“, dass die Resonanz aus der Bevölkerung „ausgesprochen mager“ sei.
Künftig auch ohne Einverständnis
Die hohen Kosten für die Liveübertragung sind auch eine Folge von Datenschutzbestimmungen. Das geht aus der Antwort der Verwaltung auf eine Anfrage der Volt-Fraktion hervor. Derzeit sind drei ferngesteuerte Kameras so positioniert, dass Bildausschnitte mit der jeweils sprechenden Person erzeugt werden können, ohne zugleich andere Personen zu zeigen. Eine Verwaltungskraft ist eingesetzt, um dem beauftragten Dienstleister jeweils mitzuteilen, wenn eine Person ausgeblendet werden muss, die ihr Einverständnis zur Übertragung nicht erteilt hat.
Mit dem „Gesetz zur Einführung digitaler und hybrider Gremiensitzungen“ ist die Gemeindeordnung geändert worden. In ihrer Hauptsatzung kann die Stadt nun Filmaufnahmen von Sitzungen zulassen. Die Verwaltung zitiert aus der Begründung des Gesetzentwurfs: „Ist dies der Fall, bedarf es anders als bisher nicht der Einwilligung aller Ratsmitglieder in die mit dem Streaming verbundenen Datenverarbeitungsprozesse.“ Damit werde die bisherige Rechtssprechung zum Recht am eigenen Bild negiert, gibt die Siegener Verwaltung zu bedenken: „Ob diese neue Regelung insofern einer gerichtlichen Überprüfung standhält, bleibt abzuwarten
So viele Leute wie online schauen nie vor Ort bei Siegener Ratssitzungen zu
Das sahen eigentlich alle gründlich anders – zumindest die, die sich zu Wort meldeten. „Die Zahlen sind sehr vorsichtig zu bewerten“, meinte Martin Heilmann (Grüne) – viele Menschen würden gemeinsam vor dem Bildschirm sitzen. Und: „Wenn sich keiner für uns interessiert, ist Herrn Grimms Lösung, dass wir also weiter unter uns bleiben?“ Wenn jemand im kommunalpolitischen Engagement mehr sehe, „als sich im Rat den Hintern platt zu sitzen und von Zeit zu Zeit den Arm zu heben“ – diesen Stadtverordneten dann Selbstinszenierung vorzuwerfen, „ist ein starkes Stück.“ Er verwies auf die Möglichkeiten des Mediums: Zuschauer könnten die für sie interessanten Themen verfolgen, dann abschalten. In der Sitzung war ein Großteil des Saal-Publikums nach dem Bürgerentscheid-Beschluss gegangen. „Das tut das Publikum online auch.“ Wenn man nicht mit der Zeit gehe, brauche man sich auch nicht wundern, dass Kommunalpolitik keinen interessiere, die Wahlbeteiligung sinkt. „So viel sollte uns die Teilhabe der Bevölkerung wert sein.“
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Julia Shirley, ebenfalls Grüne, wollte sich „selbstinszenatorisch äußern“ und hielt ein flammendes Plädoyer für den Livestream: Seit zweieinhalb Jahren sei sie in der Kommunalpolitik und in ihrem Bekanntenkreis habe die meiste Zeit niemand gewusst, was sie da tue. „Sich damit zu beschäftigen, ist ein großer Aufwand für alle, die nicht im Kosmos Kommunalpolitik leben.“ Mit dem Rats-TV sei es sehr viel einfacher, daran teilzuhaben, viel mehr Leute zu erreichen; es sei ein niedrigschwelliges, hochqualitatives Angebot für Menschen, die zum Beispiel wegen einer Behinderung nicht persönlich im nicht barrierefreien Ratssaal erscheinen können oder die schlicht keine Zeit dafür haben, weil sie Kinder betreuen, Angehörige pflegen müssen. „Ich kann nicht nachvollziehen, dass diese Zahlen in Frage gestellt werden: Stellen Sie sich mal bis zu 400 Menschen im Zuschauerraum vor – das kann man doch nicht kleinreden!“ In der Tat finden die allermeisten Ratssitzungen mit Präsenz-Publikum im bestenfalls so gerade zweistelligen Bereich statt. Bislang niedrigster Online-Zuschauer-Wert: 62. Shirley: „Kommunalpolitik macht Freude, sie ist wichtig, deswegen müssen wir allen die Möglichkeit geben, daran teilzuhaben.“
Appell: Alle Siegener Ratsmitglieder sollen auch im Netz zu ihrer Meinung stehen
Felix Hof (SPD) hatte das ähnlich gesehen: 60 bis 80 seien immer noch deutlich mehr als die, die vor Ort seien. „Wir schaffen mit diesem Angebot Transparenz, das gehört zur Demokratie – und Demokratie kostet auch Geld!“ Er sehe bei der Stadtverwaltung – und auch Parteien und Einzelpersonen – noch Luft nach oben wenn es darum gehe, das Angebot zu bewerben.
Samuel Wittenburg (Volt): „Für eine Groß- und Universitätsstadt ist es notwendig, die Präsenz der Kommunalpolitik zu steigern.“ Die Zuschauerzahlen hätten sich vervielfacht im Vergleich zur Personenzahl, die sonst bei Sitzungen anwesend seien, „bei vergleichsweise geringen Kosten“. Silke Schneider (Linke) pflichtete bei: Seit 2009 sei sie im Rat – „wann hatten wir denn schonmal Zuschauer?“
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Michael Groß fand es schwer nachvollziehbar, dass zwischendurch immer wieder Wortbeiträge fehlen, weil Stadtverordnete nicht gezeigt werden möchten: Das mache die Debatte für das Publikum schwer nachvollziehbar. „Springen Sie über Ihren Schatten, dann wird’s besser.“ Man könne die Augen nicht vor den Zeichen der Zeit verschließen, fand Achim Bell (UWG). Sah auch Torsten Schoew (FDP) so: „Dass wir hier unsere Meinung vertreten, dafür sind wir gewählt.“