Hilchenbach. Als Mädchen wurde Tina Klein fies von anderen Kindern gemobbt. Das hat sie nicht vergessen. Aber sie steht drüber, wenn ihr andere doof kommen

Allein. Als Kind fühlte sich Tina Klein oft allein. Vor allem in der Schule: Alleingelassen. Ein kleines Mädchen, dessen Körper sich plötzlich verändert: Die Haare fallen aus. Sie ist verzweifelt, ratlos: Was passiert da? Ihre Familie hält immer zu ihr, bietet ihr Schutz und Trost, aber auch ihre Mutter weiß erstmal nicht, was los ist. Auch sie wird alleingelassen, während die anderen Kinder Tina hänseln; mehr als das: Tina Klein wird gemobbt. Kinder können grausam sein. Ohne ihre Mutter, sagt Tina Klein, hätte sie das nicht geschafft. Gemeinsam haben sie das geschafft.

+++Mehr Nachrichten aus Siegen und dem Siegerland finden Sie hier!+++

Tina Klein hat Alopecia Areata, bekannt als „Kreisrunder Haarausfall“. Millionen Menschen haben diese Krankheit. Längst weiß sie das, dass es für sie nicht weiter gefährlich ist. Sie hat halt keine Haare. So etwas wie ihr und ihrer Mutter, dass Betroffene nicht wissen was mit ihnen los ist, dass sie dann auch noch fertiggemacht, alleingelassen werden – das soll sich nicht wiederholen. Bei niemandem. Andere kennenzulernen, die die gleiche Krankheit haben, „das hat mir so viel Mut gemacht“, sagt die Hilchenbacherin. Weil sie erlebte, dass sie nicht allein ist, kann sie anderen Mut machen.

Kinder können grausam sein: An die Grundschule hat Tina Klein unschöne Erinnerungen

Heute ist Tina Klein 20 Jahre alt und eine selbstsichere Frau. Aber diese Erfahrungen aus der Kindheit hat sie nie vergessen. „Die meiste Ablehnung habe ich in der Grundschule erlebt“, erzählt sie. Ein Mädchen hatte sie im Visier, saß in der Reihe hinter ihr. Einmal zog Tina ihre Perücke ab, das Mädchen sagte vor der ganzen Klasse, Tina solle sie schnell wieder aufziehen, ihr würde sonst schlecht. Ein anderes Kind wollte Tina an der Bushaltestelle, dazu drängen, die Perücke abzunehmen. Sie machte das nicht, aber sie verpasste deswegen den Bus.

Tina Klein geht offen damit um, dass sie Alopecia Areata hat. So nimmt sie denen, die sie wegen ihres Aussehens angehen, direkt den Wind aus den Segeln.
Tina Klein geht offen damit um, dass sie Alopecia Areata hat. So nimmt sie denen, die sie wegen ihres Aussehens angehen, direkt den Wind aus den Segeln. © Privat

Es gibt viele solcher Erinnerungen. „Die Lehrer waren komplett überfordert“, sagt sie. Die 3. und 4. Klasse: Nur noch durchhalten, durchkämpfen, bis es endlich auf die Gesamtschule ging. „Das begleitet mich bis heute. Wer länger gemobbt wurde, trägt das den Rest seines Lebens mit sich. Es waren Kinder, aber wenn ich zurückdenke: Als ich noch Haare hatte, habe ich nie andere wegen ihres Aussehens fertiggemacht.“ Schon als Mädchen wurde sie nach ihrem Geschlecht gefragt. Das war hart. Manchmal kommt das heute noch vor.

Auf der Gesamtschule in Kreuztal wurde alles besser – jetzt studiert Tina Klein Lehramt

Als sie auf die Gesamtschule kam, wussten Tina Klein und ihre Mutter, was los war. Dass sie Alopecia Areata hat, dass ihre Haare ausfallen und dass das ansonsten nicht gefährlich ist. Sie waren von Arzt zu Arzt gehetzt, endlich hatten sie Klarheit, konnten anderen Alopecia Areata erklären. Vor dem ersten Schultag sprachen sie mit der neuen Lehrerin, Tina Klein stellte sich vor die Klasse und sagte, was los ist. „Das hat von vornherein Wind aus den Segeln genommen“, sagt sie. Sie setzte eine Grenze, andere konnten sie nicht mehr angreifen: Dein Versuch, mich fertig zu machen, klappt nicht. Sie hat keine Haare. Na und?

Die Gesamtschule Kreuztal sei die vielfältigste Schule, die sie je kennengelernt habe, sagt die Lehramtsstudentin. Viele gesellschaftliche Randgruppen und Kulturen seien hier vertreten, die Lehrerschaft sei von Anfang an offener gewesen.

Tina Klein wurde ein Vorbild für ein kleines Mädchen – das machte sie sehr glücklich

Tina Klein trägt schon lange keine Perücke mehr. Zu ihr passt das nicht und sie mag ihre Glatze. Das hat gedauert, ist ihr schwergefallen. Aber ein künstlicher Haarschopf kratzt mitunter, ist ost teuer und es war ein langes Gezerre mit der Krankenkasse, bis endlich die Kosten übernommen wurden. Wenn Perücke, dann vielleicht als modisches Accessoire, wie Schmuck oder Schuhe. Mehr als die Hälfte ihres Lebens hat Tina Klein keine Haare mehr. Sie würde eigentlich auch keine mehr wollen. Den Stress, die Angst, dass sie wieder ausfallen könnten, will sie nicht nochmal erleben. Sie geht offen mit ihrer Krankheit um. Letztlich, findet sie, hat ihr die Flucht nach vorn mehr Vor- als Nachteile gebracht.

>>>Auch interessant: Siegenerin lebt mit Borderline – der Sturm der Gefühle im Kopf<<<

Trotzdem hallt die Kindheit nach. „Wenn jemand ein Problem mit mir hat, wirft mich das sehr in die Vergangenheit zurück. Es erinnert mich an damals, das schrecklichste Gefühl, das ich je erlebt habe. Ich fühle mich schnell wieder wie das kleine Mädchen.“ Aber sie zeigt es nicht. Sie steht da drüber. Sie muss nicht mehr weinend zu Mama laufen. Sie weiß, dass sie Menschen hat, die hinter ihr stehen. Sie kann anderen ein Vorbild sein. Ein Beispiel: Der Alopecia-Verein bietet regelmäßigen Treffen an, Workshops, Betroffene aller Altersklassen kommen, auch kleine Kinder. Die Mutter eines Mädchens, das immer Perücke getragen hatte, kam irgendwann zu Tina Klein und sagte, ihre Tochter wolle die Perücke nicht mehr. Ihretwegen. „Ich war ein Vorbild für sie.“ Das machte sie sehr glücklich.

Warum Will Smiths Ohrfeige für Chris Rock für die Alopecia-Areata-Community gut war

Tina Klein will ihre Krankheit bekannter machen, aufklären, dafür sorgen, dass Glatze ganz normal ist. Auch bei Frauen. Sie modelt, für Fotoshootings, trat auch in einem Musikvideo auf. Darin ging es aber darum, dass sie keine Haare hat. Das sollte eigentlich keine Rolle spielen. „Ich will so normal sein wie eine Frau mit langen blonden Haaren.“ Es verändert sich etwas in der Gesellschaft, aber langsam. Dass Will Smith Chris Rock bei der Oscar-Verleihung ohrfeigte, weil der einen Witz auf Kosten Jada Pinkett Smiths gemacht hatte – auch sie hat Alopecia Areata – „war fast das beste, was unserer Community passieren konnte“, sagt Tina Klein. Genauso, dass die RTL-Bachelorette Sharon Battiste offen zu ihrer Glatze steht – „wunderbar!“ Denn nach wie vor sei die Krankheit ziemlich unbekannt. „Viele wissen nicht, dass die Haare einfach ausfallen.“ Je mehr Aufklärung, desto weniger Diskriminierung. Also klärt sie auf.

+++Die Lokalredaktion Siegen ist auch bei Facebook!+++

Dabei geht es auch um Geschlechterrollen. „Niemand würde einen Mann auf der Straße ansprechen und fragen, warum er eine Glatze hat.“ Ihr passiere das heute seltener, aber immer noch. Als Kind sei sie mal von einer Christin „gesegnet“ worden. „Sie gab mir das Gefühl, es wäre schlecht, dass ich anders aussehe.“ Mit einem solchen Hass wie andere Menschen, die nicht einer vermeintlichen gesellschaftlichen „Norm“ entsprechen, sei sie aber zum Glück nie konfrontiert worden. Sind wir vielfältiger geworden? Tina Klein zuckt die Achseln. Die junge Generation sei viel toleranter, wird nun erwachsen, wird in wenigen Jahren den Ton angeben. Bisher noch nicht.