Netphen. Eigentlich wollen sie gar nicht viel. Nur einen Platz, wo sie ungestört unter sich sein können. In Netphen eine fast unmögliche Geschichte.

Junge Leute, die am Wochenende in Netphen-Mitte unterwegs sind, stehen unter Beobachtung. Um das Glasflaschen-Verbot durchzusetzen und die Stadt sauber zu halten, fragt der Außendienst der Ordnungsbehörde an der Bushaltestelle auch schon mal nach: ob sie auch bestimmt den nächsten Bus nehmen oder einfach nur hier sitzen. Letzteres ist nämlich nicht erwünscht.

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„Jugendliche suchen sich natürlich ihre Plätze“, sagt Robert Müller, Leiter der katholischen Jugendfreizeitstätte in Dreis-Tiefenbach, und erzählt die Geschichte aus dem Ort: Da waren die Heranwachsenden fündig geworden – bis die Stadt die Ruhebank, um die herum sie ihren Treffpunkt hatten, abräumte. Sie zogen zum Kindergarten weiter, wo es erst recht Beschwerden gab. Jetzt sind sie ganz weg. „Sie haben sich anscheinend einen neuen Ort gesucht, der unreglementiert ist.“

Die Mitglieder der SPD-Fraktion, die im Netphener Checkpoint die Leiterinnen und den Leiter der drei Jugendtreffs im Stadtgebiet treffen, nehmen die Geschichte zur Kenntnis. Die Sache mit den „Chillplätzen“, erkennt Marc Seelbach, sei wohl wieder „ins Stocken geraten“.

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Wie man gegen die Wand fährt

Die Geschichte, was passiert, wenn junge Leute auf der Suche nach einem Aufenthaltsort im Freien von der Stadt Unterstützung erwarten, ist dokumentiert:

Wer im Ratsinformationssystem der Stadt sucht, findet den Begriff zum ersten Mal im Jahr 2019. „Chillplätze“. Die standen auf dem Wunschzettel einer „Jugendbeteiligungskonferenz“, die im Mai 2019 stattgefunden hat. Am Aufbau und der Unterhaltung der Plätze wollen sie auf jeden Fall beteiligt sein, betonen sie iim Sozialausschuss. Der beschließt daraufhin einstimmig, dieses und weitere Anliegen weiter zu verfolgen.

Jugendtreffs

Jugendtreff Checkpoint Netphen im Ratshauskeller: montags 15 bis 18, dienstags 14.30 bis 19.30, donnerstags 15 bis 19.30, freitags 16 bis 22 Uhr.

Jugendfreizeitstätte Dreis-Tiefenbach im Untergeschoss der katholischen Kirche: montags bis donnerstags 17 bis 21, sonntags 15 bis 19 Uhr.

Jugendfreizeitstätte Irmgarteichen im katholischen Pfarrheim: Kindertreff für 8- bis 12-Jährige montags und dienstags 16 bis 19 Uhr, Jugendtreff (ab 13 Jahre) mittwochs 16 bis 20 und freitags 16 bis 21 Uhr. Salchendorf im Pfarrheim: donnerstags 17 bis 20 Uhr.

Im September 2019 kommt das Thema wieder in einem Protokoll vor, gefragt wird nach dem Stand der Dinge. Angeregt wird, „die Jugendlichen, erneut in eine Sitzung einzuladen, um mit ihnen über die Verwirklichung der Vorschläge zu sprechen“. Und schließlich, so das Protokoll weiter: „Der Ausschuss gibt den Arbeitsauftrag an die Verwaltung, konkrete Vorschläge zu den Forderungen zu erarbeiten und diese zusammen mit dem allgemeinen Prozessfortgang in der ersten Sitzung im Jahr 2020 vorzustellen.“

Im März 2021, nachdem der Ausschuss wegen der Pandemie länger als ein Jahr überhaupt nicht getagt hat, wird über einen inzwischen stattgefundenen „Runden Tisch“ berichtet Im Juni kommt es zu einer neuen Diskussion. Das Ergebnis, wiederum laut Protokoll: „Die Verwaltung wird beauftragt, eine Auftaktveranstaltung zu organisieren, um Kinder und Jugendliche der Stadt Netphen angemessen an politischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen zu beteiligen.“

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Über ein „Arbeitstreffen“ im August 2021 berichtet die Verwaltung dem Sozialausschuss im Januar 2022: Die Fachleute vom Kreisjugendring seien sich einig gewesen, „,dass die Umsetzung zum jetzigen Zeitpunkt nicht sinnvoll sei, da die Jugendlichen, die das Projekt geplant und angefangen haben, die Schule bereits beendet haben“. Im Protokoll des Treffens wird der Vertrauenslehrer des Gymnasiums zitiert Den Schülerinnen und Schülern seien fast nur Bedenken zur Umsetzung entgegengebracht worden. Seitdem sei nichts weiter passiert. Dies habe zu Resignation geführt.“ Fazit der Verwaltung: „Das Projekt soll nun solange ruhen, bis Jugendliche es von selbst erneut anstoßen.“

Wie Lösungen möglich werden

Es tut sich aber trotzdem was, jenseits des Politik.- und Verwaltungsapparates: In Salchendorf hat sich Ortsbürgermeisterin Alexandra Wunderlich des Themas angenommen. die Suche nach einem Platz war offenbar erfolgreich. „Uns ist wichtig, dass wir den Platz mit den Jugendlichen zusammen gestalten können“, sagt Anne Sokolis, Leiterin der Jugendfreizeitstätte Irmgarteichen, die an einem Tag in der Woche auch in Salchendorf ein Angebot macht: „Das schafft Wertschätzung.“ Für Dreis-Tiefenbach hat Robert Müller Projektfördermittel beim Landesjugendamt locker gemacht. Die Idee: etwas am Bolzplatz Heckersberg zu machen, wo bereits eine Dirt-Bike-Piste angelegt wurde. „Da ist Platz genug, etwas weiter zu entwickeln.“

Auf den Dörfern ist das wohl einfacher, überlegt Marc Seelbach: Er erwähnt die Hütte in Afholderbach und den Bauwagen in Eschenbach, die junge Leute zu ihren Treffpunkten gemacht haben. Natürlich, sagt Elke Bruch, gäbe es auch Platz in der Bürgerbegegnungsstätte in Unglinghausen - sie erwähnt den Keller. Dort hätte der Vorstand des Bürgervereins aber auf einer Beaufsichtigung durch Erwachsene bestanden. Womit sich das Thema erledigt hatte.

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Eigentlich haben sie den Auftrag, ihre Jugendtreffs zu betreiben: Carina Boller in Netphen, Anne Sokolis in Irmgarteichen und Robert Müller in Dreis-Tiefenbach. Die Besucherzahlen nach Corona steigen wieder an – es kommen viele Junge, und es kommen die, die vor der Pandemie schon da waren und während der Schließungszeit die digitalen Angebote wahrgenommen haben. „Aber die Generation dazwischen fehlt“, sagt Robert Müller und meint die 13- bis 15-Jährigen. Von den Treffs aus haben sie das Homeschooling unterstützt. sogar Hausaufgabenhilfe angeboten. Zu bearbeiten waren und sind familiäre Probleme, im Einzelfall auch Alkohol- und Suchtproblematiken. „So langsam kommt alles raus, was Corona mit den Jugendlichen gemacht hat“, sagt Anne Sokolis.

Woran es der Jugendarbeit fehlt

Chillplätze betreuen? „Es gibt ja in Netphen keine anderen Pädagogen, die dafür da wären“, stellt Robert Müller fest, der auch Vorsitzender des Kreisjugendrings ist. „Im Zweifelsfall wird dann ein Öffnungstag wegfallen.“ Ein weiterer wie schon so viele, wenn zum Beispiel die Gedenkstättenfahrt nach Prag ansteht, die Sommerfreizeit oder die jährlichen Seminare mit den 8. Klassen der Sekundarschule, die für vier Tage in eine Tagungsstätte fahren, um sich mit ihrem Zusammenhalt, ihrem Umgang miteinander und auch mit Themen wie (Cyber-)Mobbing zu beschäftigen.

Das Budget, Mini-Jobber, Honorarkräfte oder Ehrenamtliche gegen Aufwandsentschädigung einzusetzen, ist in allen drei Einrichtungen begrenzt. „Mir sind zu Beginn von Corona meine Ehrenamtler weggebrochen“, berichtet Carina Boller. Die, die alt genug waren und sich qualifiziert hatten, einen Öffnungstag in eigener Verantwortung zu stemmen, sind nun in Ausbildung und Beruf und haben keine Zeit mehr. Umsonst mitzuhelfen, „können sich Jugendliche nicht mehr leisten“, weiß Anne Sokolis. Sie entscheiden sich notgedrungen für den bezahlten Job. Robert Müller weist auch auf den Unterschied hin: Jugendliche fühlen sich an dei offenen Jugendtreffs kaum gebunden – deswegen gehen sie dorthin. Das unterscheidet sie von den viel verbindlicheren Vereinen.

Die Besucher von der SPD notieren sich den Bedarf nach höherem Budget: Da könnte die Stadt womöglich noch einmal aufstocken. Vielleicht geht das einfacher als die Sache mit den Chillplätzen. Jemand erinnert sich, dass man da eigentlich auch schon 1999 drüber gesprochen habe.

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