Eisern. In der Ev. Kita Abenteuerland in Siegen-Eisern sind alle Kinder Inklusionskinder. Das verändert das Leben aller – Kinder, Erzieherinnen, Eltern.
Lia (Name geändert) fliegt in der Hängematte und strahlt. „Wie ein Flugzeug!“, ruft sie und breitet die Arme aus. Jessica Schmidt strahlt zurück. Marie rennt immer wieder die Turnmatte hoch, die an der Kletterwand lehnt: Mutter-Kind-Spielen geht grade nicht, sagt sie zu ihrer Freundin, „ich muss hier erstmal üben.“ Die Höhle unter der Matte hat Jan schon zu seiner Geheimbude umfunktioniert, „willst Du mit rein?“, fragt er Marie, die vom vielen Rennen schon ein bisschen außer Atem ist.
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Die evangelische Kita Abenteuerland in Eisern. Drei Gruppen, 60 Kinder zwischen 2 und 6 Jahren, seit knapp 20 Jahren integrative Arbeit, seit etwa einem Jahr Inklusions-Kita – offiziell. Das Thema beschäftigt sie schon deutlich länger und sie sind immer noch auf dem Weg, wie Jessica Schmidt betont, eine der beiden Inklusionsfachkräfte. Inklusion kann man nicht überstülpen, dahinter steckt eine grundlegende Denkweise, ein Menschenbild, ein ganzheitliches pädagogisches Konzept. Der Impuls dazu kam vom Träger, den evangelischen Kitas im Kirchenkreis Siegen. Den haben sie weitergetragen ins Team, alle zusammen daran gearbeitet.
Integration formt Kind für Gesellschaft – Inklusion verändert Gesellschaft fürs Kind
„Inklusion fängt im Kopf an, muss im Kopf anfangen“, sagt Barbara Kreß, die andere Inklusionsfachkraft der Kita Abenteuerland. Wie Jessica Schmidt war sie vorher Integrationsfachkraft, aber die Begriffe kann man nicht einfach vertauschen. „Das wird Inklusion nicht gerecht.“ Denn die, das merken sie alle längst im Alltag, verändert die Lebenseinstellung. Ganz grob: Integration formt das Kind so, dass es in die Gesellschaft passt, erklärt die Pädagogin. Inklusion dagegen formt die Gesellschaft, „alle machen Platz fürs Kind“. Dieser „Gegensatz“, ein irgendwie geartetes „wir“ und „die“, wird am Ende aufgelöst, das ist das Ziel. Alle sind dabei, so wie sie sind, vermeintliche Andersartigkeit ist überhaupt kein Thema mehr. „Gehört hat das jeder schonmal“, sagt Barbara Kreß. Aber es zu leben, in den eigenen Alltag, Beruf, Privates hineinzuflechten: Nicht trivial. Überhaupt nicht.
„Wir mussten alle an uns arbeiten“, sagt Kita-Leiterin Claudia Schumacher-Markowski: „Wo stehe ich, wo habe ich Vorurteile, wo muss ich noch was ändern?“ Das ist mit einer Videokonferenz nicht ansatzweise getan. „Wir wussten nicht, wie es im Team ankommt“, erinnert sich Barbara Kreß. Es war Corona-Zeit, Notbetrieb, Ausnahmesituation irgendwie, aber es gab auch mehr Zeit. Zuerst kratzten die beiden Inklusionsfachkräfte und Claudia Schumacher-Markowski an ihrer eigenen Fassade, ihren eigenen Barrieren im Kopf. Trugen die Gedanken dann ins Team und waren überwältigt von der Resonanz. „Es lief ganz toll, alle waren motiviert, brachten Input, Ideen, Reflexion“, beschreibt Barbara Kreß. „Gänsehaut!“ Das können sie allen nur empfehlen, nicht nur Kitas: „Traut Euch! Ein neues Lebensgefühl, das uns zusammenbringt und ganz viel gibt.“
Die Siegener Kita Abenteuerland arbeitet auch intensiv mit den Familien der Kinder
Tatsächliche Inklusion ist nichts, was die Erzieherinnen mal so ein bisschen in der Kita machen. Die Kinder stehen im Fokus und damit auch Eltern, Geschwister, Onkel und Tanten, Omas und Opas. „Alle Kinder sind Inklusionskinder“, erklärt Barbara Kreß – sie alle sind unterschiedlich, haben verschiedene Gaben, manche brauchen bei manchen Dingen länger als andere. „Auch Kinder ohne heilpädagogischen Förderbedarf“ – so heißt der Fachbegriff – „haben schon ihre Lebensgeschichte“, sagt sie. Sie alle sind es wert, nach ihrem Standpunkt bedacht und gefördert zu werden. Manche vielleicht mehr als andere. Also sind auch alle Familien es wert, betrachtet zu werden. Auch die haben alle ihre eigenen Lebensgeschichten. Und wenn’s mal schrappt – „wir sind alle nur Menschen und machen Fehler. Es ist wichtig, dass wir daran arbeiten“, sagt Barbara Kreß.
Im Alltag bedeutet Inklusion für die Kinder Partizipation, erklärt Claudia Schumacher-Markowski. Die Kinder dürfen mitbestimmen, das grundlegende Prinzip der Demokratie erfahren. Mit wem möchten sie spielen, wo und mit welchem Material, worüber möchten sie sprechen? Die Kinder lernen damit umzugehen, dass nicht immer alles so läuft, wie sie das wollen. Wenn es Streit gibt, lösen sie den gemeinsam, für beide Seiten. „Wir begleiten das, geben die Lösung aber nicht vor, sonst lernen die Kinder nichts“, sagt Schumacher-Markowski. Das betrifft auch die Erzieherinnen selber – sie sind Vorbilder im Alltag, leben Inklusion vor. Quer durchs Zimmer brüllen ist nicht vorbildlich. Jeder hat mal einen schlechten Tag – „das kann man aber auch den Kindern sagen“, betont sie.
Das ist wahre Inklusion: Förderung findet statt – aber quasi ohne es zu merken
Und sie dürfen Unterschiede sehen und auch benennen. Ein Beispiel: Ein Junge wunderte sich über einen anderen, der Nagellack trug, erzählt die Kita-Leiterin. Das sei doch nur für Mädchen. Aber wer bestimmt das? Sie erklärten ihm, dass man ja zum Beispiel auch die Fingernägel schwarz-weiß lackieren könnte, im Fußball-Muster. „Er guckte erst skeptisch, aber es ratterte sichtlich in seinem Kopf“, sagt sie. Er fand’s dann doch ziemlich cool. Sie wollen ihre Schützlinge vorurteilsbewusst erziehen, Selbstwert und Selbstbewusstsein stärken; vermitteln, dass jeder anders und besonders ist, das dann aber als selbstverständlich nimmt. „Die Kinder wissen: Wir dürfen darüber reden – Du hast eine andere Hautfarbe. Sie sehen Unterschiede. Und die sind gewünscht und bereichernd.“
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Unterschiede erkennen und als selbstverständlich zur Kenntnis nehmen, betrifft natürlich auch Kinder mit Krankheiten oder Behinderungen. Aber das steht nicht im Fokus. „Wenn etwas benötigt wird, schafft der Träger das an“, sagt Barbara Kreß. Ein rollstuhlgerechtes Klettergerüst ist gerade nicht nötig. Würde es das, gäbe es eins. Mehrere Kinder haben anerkannten heilpädagogischen Förderbedarf, sie werden etwas intensiver begleitet von den beiden Inklusionsfachkräften. Aber ohne es zu merken. Barbara Kreß und Jessica Schmidt bilden dann Gruppen, Kinder mit und ohne Bedarf, in wechselnder Zusammensetzung, begleiten, ermöglichen soziale Teilhabe, arbeiten an Entwicklungsverzögerungen. Spielerisch, ohne den Nachholbedarf in den Fokus zu rücken. „Sie sind Teil ihrer festen Gruppen, wir beide sind nur noch als Bonus obendrauf“, sagt Jessica Schmidt.
Egal was ein Kind hat oder nicht kann – in der Kita Abenteuerland ist es willkommen
Manche Kinder haben ein Cochlea-Hörimplantat, Diabetes oder eine Herzerkrankung, „wenn Eltern ein Kind mit Bedarf anmelden, sind wir da und begleiten“, sagt Claudia Schumacher-Markowski. Es gebe Eltern, die machen sich Gedanken, ob ihr Kind mit einer Gluten-Unverträglichkeit überhaupt in die Kita kann, „es gibt da ganz viele Sorgen und Ängste“, berichtet die Leiterin. Die wollen sie ihnen nehmen: Egal was ein Kind hat oder nicht kann – es ist willkommen in der Kita Abenteuerland. Die Erzieherinnen können und wissen nicht alles – aber das können sie lernen. „Wir bereiten uns so gut wie möglich vor“, verspricht Claudia Schumacher-Markowski, „wir machen uns zusammen auf den Weg und bekommen das möglichst gut hin.“ Die Erzieherinnen begleiten die Eltern auch, bei der Schulanmeldung oder amtsärztlichen Untersuchungen zum Beispiel. Oft reicht es, dass sie einfach nur dabei sind, „viele Eltern bekommen so viel Druck und Gegenwind“, erzählt Jessica Schmidt: „Wir lassen den Hammer außerhalb der Kita nicht fallen.“
Die Kita Abenteuerland ist auf dem Weg und die Gesellschaft ist als Ganzes wahrscheinlich noch ein gutes Stück dahinter. Und auch das ist Teil von Inklusion: Dass alle, die das leben, sie weitertragen, die Idee mitnehmen, wenn sie zum Beispiel in die Schule kommen. „Wir sind noch lange nicht am Ziel“, sagt Barbara Kreß. Aber den Grundstock haben sie hoffentlich gelegt. „Der Funke wird weitergetragen.“
Demokratie erleben: Sonnenstrahlengruppe wählt mit Muggelsteinen Spielprogramm
Die Sonnenstrahlengruppe entscheidet: Wasserfarben, Fingerfarben oder Scheren und Papier? Alle dürfen abstimmen, mit bunten Steinen, den sie in ein Säckchen werfen, für jede Auswahlmöglichkeit eines. Das Säckchen mit den meisten „Muggelsteinen“ steht nächste Woche auf dem Maltisch. Emma möchte gerne Fingerfarben malen, am liebsten sofort, Marla auch, sie werfen ihre Steine ins graue Säckchen. Die Spannung steigt – im roten Fingerfarben-Säckchen sind schon vier Muggelsteine, im grauen Wasserfarbe-Beutel erst zwei.
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Die Kinder hält es kaum noch auf ihren Sitzen, endlich wird ausgezählt und alle zählen laut mit: Fünf, sechs, sieben, acht, neun… Großer Jubel: „Nächste Woche liegen da Scheren, viel buntes Papier und Kleber, alles was man braucht“, sagt Gruppenleiterin Anja Simon. „Aber Fingerfarben macht Spaß!“, sagt ein Mädchen. „Ja ich weiß“, antwortet Anja Simon. „Das können wir beim nächsten Mal ausprobieren.“ Dann geht es aber erstmal raus, die Sonne scheint, es ist warm – heute braucht es keine Matschhosen und Gummistiefel.