Deuz. Der Netphener Wilfried Lerchstein bringt auch mit 65 noch die Festival-Bändchen an die Handgelenke. Nur im Helferzelt übernachtet er nicht mehr.
Nach zwei Jahren Zwangspause durch die Corona-Pandemie gibt es endlich wieder ordentlich was auf die Ohren, denn das obere Siegtal hat sich für vier Tage unter dem Motto „Welcome to Freak Valley“ erneut in das Tal der Freaks verwandelt. Headbanger und Crowdsurfer können sich wieder so richtig austoben bei der inzwischen bereits neunten Auflage des Freak Valley Festivals (FVF). Am 18. und 19. Mai 2012 feierte es auf dem Gelände der AWO-Werkstatt in Deuz eine Premiere. Zu den Helfern der ersten Stunde gehören auch Michael Müller aus Irmgarteichen und Wilfried Lerchstein aus Grissenbach.
Michael Müller erinnert sich: „Als vor zehn Jahren Helfer für das erste FVF gesucht wurden, habe ich mich sofort gemeldet. Mir wurde damals gesagt, ich sei die erste Person überhaupt, die auf den Helfer-Aufruf reagiert hat. Und wer hätte damals gedacht, dass wir auch zehn Jahre später noch immer dabei sein würden.“ Neben dem eigenen Musikgeschmack „war es vor allem der Umstand, dass ein solches Festival quasi vor der eigenen Haustür stattfinden sollte, der sofort mein Interesse weckte. Und dass die Rock Freaks als gemeinnütziger Verein auch noch einen großen Teil des erzielten Überschusses der AWO für ihre Behindertenarbeit spenden, war ein weiteres wichtiges Argument, sich hier ehrenamtlich als Helfer einzubringen,“ stellt Wilfried Lerchstein fest.
Einmal kam sogar eine komplette Hochzeitsgesellschaft zum FVF
Auch der überschaubare und familiäre Rahmen, in dem das FVF in all den Jahren in Deuz stattgefunden hat, macht den besonderen Flair dieses Festivals aus. Wo sonst sieht man ganze Familien mit ihren kleinen, durch Kopfhörer vor dem Festivalsound geschützten Kindern, für die auch eine Kinderbetreuung angeboten wird, oder sogar eine komplette Hochzeitsgesellschaft, die sich für die Hochzeitsfeier beim FVF einfindet, wo dann der Brautstrauß im Publikum landet? Irgendwie hat man immer das Gefühl, hier in Deuz von einem Hauch von Woodstock umgeben zu sein. Und auch ein selbstgebrautes Festivalbier gibt es längst nicht bei jedem Festival.
Die Fans des Stoner Rock (nach englisch “stoned“, auf deutsch „bekifft“) aus vielen Ländern, manche sogar aus Übersee, treffen sich jährlich in Deuz, um für mehrere Tage das musikalische Line-up unter dem Motto „No Fillers – Just Killers!“ und die Festivalatmosphäre zu genießen. Die meisten übernachten auf dem Zeltplatz oberhalb von Beienbach, wo die Beienbacher für sie ein Frühstückszelt betreiben.
Auch wenn Wilfried Lerchstein, der inzwischen mit 65 Jahren das Rentenalter erreicht hat, den nächtlichen Fußmarsch in Richtung seines gewohnten Bettes vorzieht – die meisten Helfer und Helferinnen übernachten auf dem eigens für sie ausgewiesenen Helferzeltplatz. Frühstücken können sie dann gemeinsam im Pausenraum des AWO-Gebäudes. Die Lebensmittelgeschäfte in Deuz wissen inzwischen genau, bei welchen Artikeln sie rechtzeitig ihre Vorräte deutlich aufstocken müssen.
Durch ihr spezielles Outfit und ihre Frisuren wirkten die Festivalbesucher auf die Einheimischen zwar anfangs etwas exotisch, wenn nicht gar furchteinflößend. Inzwischen haben sie sich aber an den Anblick gewöhnt und wissen, dass sie es mit einer überaus feierfreudigen, aber dennoch besonders friedlichen Klientel zu tun haben. Weil das Festivalgelände in Deuz nicht mehr als etwa 2.500 Besucher zulässt, ist jedes FVF schon kurz nach dem Beginn des Kartenvorverkaufs ausverkauft. Trotzdem haben die veranstaltenden Rock Freaks bisher konsequent der Versuchung widerstanden, den Ort des Festivals, das mittlerweile Kult-Status genießt, irgendwohin zu verlegen, wo deutlich mehr Besucher teilnehmen könnten.
Musikbegeisterung überträgt sich auf AWO-Werkstatt
Und so können auch weiterhin die Rockmusikfans unter den AWO-Beschäftigten in Deuz vor der Bühne das Musikprogramm genießen. Auch die Rollstuhlfahrer müssen dabei von einem für sie reservierten Podest aus nicht auf eine gute Sicht auf die Bühne verzichten. Die Rock Freaks wissen es zu schätzen, dass sie es dem großen Entgegenkommen der AWO zu verdanken haben, dass das FVF hier überhaupt stattfinden kann. Und mit dem AWO-Mitarbeiter Frank „Acci“ Büdenbender haben sie gleichzeitig einen musikbegeisterten Verbindungsmann zur AWO in ihren Reihen.
Michael Müller und Wilfried Lerchstein gehören auch in diesem Jahr wieder zum Helferteam von Bereichsleiter Chris Zimmer und werden am Einlass des Festivalgeländes eingesetzt. Hier kontrollieren und entwerten sie die Eintrittskarten und befestigen die Festivalbändchen an den Handgelenken der Besucher. Diese müssen dann bei jedem Betreten des Geländes ihre Bändchen vorzeigen. Daran befindet sich ein mit einem Guthaben aufladbarer Chip, der an den Verpflegungsständen das bargeldlose Bezahlen ermöglicht.
Ihre ersten Helfershirts halten sie in Ehren
Trotz ihrer Arbeitsschichten bleibt allen Helfern noch genug Freizeit, um sich auch selbst unter die Festivalbesucher zu mischen. Erkennbar an ihren Helfer-T-Shirts, sind sie aber auch dann weiterhin für Ratsuchende ansprechbar. Michael Müller und Wilfried Lerchstein haben vor allem ihr erstes Helfershirt bis heute in Ehren gehalten. Es ist knallrot und auf der Rückseite sind alle Bands aufgelistet, die 2012 aufgetreten sind. Darunter war als einer der Headliner „Demon’s Eye featuring Doogie White“, eine „Deep Purple“-Coverband mit Siegerländer Wurzeln.
Aber auch alle Programmhefte hat sich Wilfried Lerchstein aufgehoben. Gerne erinnert er sich an die Auftritte der „Blues Pills“ mit ihrer stimmgewaltigen schwedischen Sängerin Elin Larsson in den Jahren 2014 und 2015. Ihr Konzert vom 30. Mai 2014 wurde im Frühjahr 2015 sogar auf einem Live-Album veröffentlicht. Jens Heide, der Vorsitzende der Rock Freaks, war übrigens seinerzeit mit seinem Vorschlag nicht ganz unschuldig an dem daraufhin gewählten Bandnamen „Blues Pills“. Spätestens seit ihr Album „Lady in Gold“ 2016 auf Platz 1 der deutschen Albumcharts stürmte, ist die erfolgreiche Band für einen erneuten Auftritt in Deuz leider eine Nummer zu groß geworden.
Ein besonderes Highlight war für Wilfried Lerchstein das FVF 2016, als er mit seinen Briefmarkenfreunden Netphen die Rock Freaks dafür gewinnen konnte, während des Festivals eigene Briefmarken mit dem Festival-Logo zu entwerfen. Hiermit und mit dem dazu passenden ersten deutschen Sonderstempel für ein Rockmusik-Festival konnte die Botschaft vom Deuzer „Heavy-Stoner-Blues-Psych-Fest“ auch postalisch in die große weite Welt befördert werden. Innerhalb von drei Stunden waren alle FVF-Briefmarken ausverkauft und schon im Jahr 2017 wurde diese Idee beim Wacken Open Air kopiert und es gab auch dort entsprechende Briefmarken und einen Sonderstempel der Post.
Nach dem FVF ist vor dem FVF. Aber dazwischen findet auf dem Gelände des Vortex Surfer Musikclubs in Weidenau, parallel zu einem dort am Abend stattfindenden Live-Musik-Event, immer ein nachmittags beginnendes sommerliches Helferfest statt. Hiermit bedanken sich die Rock Freaks bei den Mitgliedern des Helferteams für ihr vorangegangenes Engagement.
Auch wenn der Einsatz in einigen sensiblen Bereichen dem engeren Kreis des Organisationsteams um die Mitglieder von „Rock Freaks e.V.“ vorbehalten bleibt, wäre ein solches Festival ohne die zahlreichen weiteren zuverlässigen Helfer und Helferinnen nicht möglich. In diesem Jahr mit seinen vier Festivaltagen sind es immerhin fast 330 Personen, für die von Torsten Kunze und Marco Rehm die Einsatzpläne erstellt werden mussten. Neben Helferzentrale, Festivallager, Helferzelt, Chipkasse, Merchandising, Betreuung der Medienvertreter, Fahrdienst und Backstage gibt es mit Auf- und Abbau einschließlich der zugehörigen Aufräumarbeiten auf dem Festival- und Zeltplatzgelände, Bierrondells, Saftbar, Garderobe, Einlass, Zelt- und Parkplatz viele Bereiche, deren möglichst reibungsloses Funktionieren und Ineinandergreifen für ein gelungenes Festival unerlässlich ist.
Ein erfüllter Wunsch: Erstmals mit der Kamera backstage
Und auch einen bisher unerfüllten Wunsch haben die Rock Freaks dem überzeugten Helfer-Urgestein Wilfried Lerchstein in diesem Jahr erfüllt. „Ich darf ja in diesem Jahr erstmals mit meiner Fotokamera auch in den Backstage-Bereich hineinschnuppern. Das hatte ich mir schon immer gewünscht, weil von außen betrachtet, war dieser Bereich für mich irgendwie immer vom Reiz des Geheimnisvollen umgeben“, ist er den Rock Freaks sehr dankbar.
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