Hilchenbach. Grabmale erzählen Stadtgeschichte. Und die kann spannend sein, erfahren Neuntklässler der Carl-Kraemer-Realschule in ihrer Religionsstunde.

Diese Religionsstunde beginnt Friedrich Wilhelm Cobet. Der Arzt, der seine Praxis in der Unterzeche hatte, ist 1877 gestorben. Sein Grabstein ist der älteste, der auf dem alten Friedhof erhalten ist. Michael Thon, Gäste- und Kulturlandschaftsführer, wird die 9 b der Carl-Kraemer-Realschule nun anderthalb Stunden lang über den Hang unterhalb ihres Schulgebäudes führen. Ihren täglichen Schulweg werden die Jugendlichen danach mit anderen Augen sehen.

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An Grabmalen lernen: Die ersten Heimatkrimis

Auch Johann Wilhelm Bellebaum wird den Schülerinnen und Schülern kein Begriff sein. So wenig wie dessen Bruder Hermann, dem Verfasser von Büchern wie „Bertram der Jäger“ oder „Harold der Zigeunerkönig“. „Die ersten Heimatkrimis“, meint Michael Thon. Dass dieser Grabstein, der zweitälteste, überhaupt noch steht, ist der Hilchenbacher Politik zu verdanken. In der städtischen Friedhofssatzung steht, dass „Grabstätten oder Grabmale von verstorbenen Persönlichkeiten, die für die Stadt von besonderer Bedeutung sind“, erhalten bleiben können. Wer bedeutend ist, bestimmt – von Fall zu Fall - der Kulturausschuss.

Der alte Hilchenbacher Friedhof ist heute eine Parklandschaft. Einige Grabmale bleiben erhalten. .
Der alte Hilchenbacher Friedhof ist heute eine Parklandschaft. Einige Grabmale bleiben erhalten. . © Steffen Schwab | Steffen Schwab

Johann Wilhelm Bellebaum war nicht nur Pfarrer, sondern auch Lehrer. Das war üblich und bot sich an, weil die Pfarrer sowieso schon lesen und schreiben konnten. „Gehen wir mal zu Romberg rüber“, lädt Michael Thon ein. Ob die abgebrochene Säule für ein zu früh zu Ende gegangenes Leben steht? Dr. Hermann Romberg hatte im Revolutionsjahr 1848 versucht, die Hilchenbacher zu Demokraten zu machen - der Bürgermeister unterband das und berief eine Bürgerwehr ein. Immerhin: Die „Liedertafel“ ist seine Gründung, der Gesangverein, in dem sich Männer versammeln konnten. Frauen blieben auch in demokratisch gesinnten Familien am Herd, „das war damals selbstverständlich“, sagt Michael Thon.

Weiter geht es am Grabstein der 1913 verstorbenen Lina Krämer mit dem Relief einer knienden Frau. Man weiß nichts über Lina Krämer. Aber das Grabmal ist das einzige auf diesem Friedhof, das unter Denkmalschutz steht. Der Weg führt weiter zu den Wohlhabenden der Stadt: Die Familie Weiß, die die Leimfabrik hatte, wo heute das Einkaufszentrum mit Rewe und Rossmann ist, und die Villa dahinter über dem Ningeln Weiher. Michael Thon erzählt, wie Albert Rudolf Weiß, der erste Autofahrer Hilchenbachs, erst die Fronleichnamsprozession mit lautem Geknatter überholte und dann mit gerissenem Keilriemen liegen blieb. Die Reparatur habe er gerade noch geschafft, bevor die verärgerte Prozession ihn einholte: „Die hatten schon Schirme und Stöcke gehoben.“

Michael Thon führt die Klasse 9 b der Carl-Kraemer-Realschule über den Alten Friedhof.
Michael Thon führt die Klasse 9 b der Carl-Kraemer-Realschule über den Alten Friedhof. © Steffen Schwab | Steffen Schwab

Stadtgeschichte lernen: Schleudersitz und Süßer Konrad

Gräber erzählen Stadtgeschichte.

Richard Hüttenhein gehörte die Villa in der Bruchstraße, die bis 1977 Rathaus war; er hat als erster Vorsitzender des SGV den Bau des Gillerbergturms initiiert. Dr. Friedrich Hüttenhein war Arzt. Seminararzt in der Zeit, als das Gebäude der Carl-Kraemer-Realschule noch neu war – im Lehrerseminar wurden Lehrer ausgebildet. „Blaumachen war da nicht.“ Der Arzt im Haus war wohl unbestechlich.

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Oskar Weiß, der in der Herrenwiese eine Frauenklinik betrieb. Sein Sohn Ulf Weiß-Vogtmann, der Erfinder des Schleudersitzes und legendäre Geschichtenerzähler, der sogar Wernher von Braun in seine Waldhütte holte, den Mann, der für die Nazis Raketen baute – Weiß-Vogtmann wurde 1989 in der einzigen begehbaren Gruft des Friedhofs beigesetzt.

Die Schrags, Goswins, Feldmanns, Blech-und Porzellanfabrikanten.

Die Giersbachs, Hüttenheins, Krämers, Hilchenbachs Lederfabrikanten. Michael Thon erzählt, wie er als Zivildienstleistender bei der Kreisverwaltung nach dem Lederwerke-Konkurs 1987 Tausende beschlagnahmte Wildkatzenfelle zählen musste, beschlagnahmt wegen des Verstoßes gegen das Washingtoner Artenschutzabkommen – der Kreis verlor den Prozess gegen die französischen Eigentümer.

Schließlich Carl Kraemer, der Namenspatron der Realschule: „Ich glaube, der hat was mit Tierschutz gemacht“, kommt eine erste zögernde Antwort aus der Klasse.

Und der Konditormeister Konrad Müller. Der „süße Konrad“, der Hilchenbach bis in die 1950er Jahre mit seiner Feinbäckerei und seinem Tanzcafé, in dem Jugendliche sich treffen konnten, wirklich berühmt gemacht hat.

Seit 2013 Parkbestattungen in Hilchenbach

Dann ein frisch eingeebnetes Grab. Wer da begraben wurde? „Wenn ein Grab weg ist, geht auch die Überlieferung verloren.“

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Der alte Hilchenbacher Friedhof wurde 1833 eröffnet. Vorher fanden Beisetzungen an der Kirche statt. „Wer Geld hatte, konnte sich auch in der Kirche beisetzen lassen“, berichtet Michael Thon. Eine Lösung auf Dauer war das nicht. „Das muss vor allem im Sommer unangenehm gewesen sein.“ Bereits 1948 war der Friedhof unterhalb des Jung-Stilling-Gymnasiums voll belegt, ein neuer Friedhof wurde im Langenfeld angelegt. 1967 entwidmete der Rat den unteren Teil, er sollte fortan nur noch Park sein. Im oberen Teil wurden weiter Verstorbene in vorhandenen Grabstätten beigesetzt. 2013 beschloss der Rat, den Friedhof auch weiter zu nutzen: für die Parkbestattung von Urnen, die um Stelen mit Namenstafeln in die Erde gelegt werden.

Michael Thon führt die Klasse 9 der Carl-Kraemer-Realschule über den Alten Friedhof – am Ehrenmal: Krieg ist ein sehr gegenwärtiges Thema.
Michael Thon führt die Klasse 9 der Carl-Kraemer-Realschule über den Alten Friedhof – am Ehrenmal: Krieg ist ein sehr gegenwärtiges Thema. © Steffen Schwab | Steffen Schwab

Fürs Leben lernen: Einer der ältesten deutschen Mammutbäume

Am Ehrenmal, das hier seit 1968 seinen Platz hat mit den Namenstafeln gefallener Soldaten und einer Erinnerung an die jüdischen Opfer der NS-Gewaltherrschaft – der verschleiernde Text: „Auf dem Transport gestorben“ wurde überklebt – , wird Michael Thon persönlich: Er erinnert an seine Jugend, als den Kriegsdienst nur verweigern durfte, wer eine „Gewissensprüfung“ überstand. „Frieden ist keine Selbstverständlichkeit“, sagt er, „und auch wer nur zuschaut, trägt Verantwortung.“

Führungen

Gäste- und Kulturlandschaftsführer Michael Thon bietet am Tag des Friedhofs, 18. September, öffentliche Friedhofsführungen über den alten Friedhof an. Anmeldungen sind unter touristinfo@hilchenbach.demöglich. Neben den Nachtwächterführungen im Winterhalbjahr hat Michael Thon auch Führungen zu den Wirkungsstätten bekannter Hilchenbacher im Programm: Wilhelm Münker, den Mitbegründer des Jugendherbergswerks, Tierschützer Carl Kraemer und auch Richard Becker, dem Gründer des Vogelschutzvereins, der gegen das Dompfaffenschießen kämpfte. Info: www.gruenthon.de

Am Grabmal von Julius Kocher lernen die Jugendlichen dazu. Der Bürgermeister, der von 1873 bis 1905 im Amt war, verfügte, dass Kinder unter zwölf Jahren den Friedhof nicht ohne erwachsene Begleitung betreten dürfen. „Das gilt auch heute noch.“ „Das weiß nur keiner“, fügt Lehrerin Patrycija Schrei hinzu. Es soll nicht nur um Tod und Sterben gehen bei diesen Friedhofsbesuchen. Sondern auch um den Respekt vor dem Ort, an dem man seinen Müll erst recht nicht einfach wegwerfen darf.

Einer der letzten Blicke gilt dem Mammutbaum. Michael Thon schätzt ihn auf 30 Meter Höhe. „Er ist auf jeden Fall einer der ältesten Mammutbäume in Deutschland.“ Da wird mache Alltäglichkeit etwas kleiner. Die 9 b wird später im Unterricht die Eindrücke auf dem Friedhof bearbeiten. „Wir werden das alles besprechen“, kündigt Patrycija Schrei an. Vielleicht auch den ganz einfachen Rat von Michael Thon, „die Talente, die ihr habt, zu nutzen und was aus dem Leben zu machen.“

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