Siegen. Zwischen Deutschbuch und Kletterwald: Siegener Uni darf Schulen und Jugendtreffs weiter unterstützen. Kinder müssen auch Zusammensein neu üben.

Die Siegener Uni kann weitermachen mit Extra-Zeit, mindestens bis zu den Sommerferien. An sieben Standorten in Siegen und Kreuztal, Schulen und Jugendtreffs, können kleine Gruppen von Jugendlichen nach- und aufholen, was ihnen die Pandemie genommen hat: Unterrichtsstoff – und das Zusammensein mit anderen.

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Was ist das Besondere an dieser Extra-Zeit?

„Extra-Zeit zum Lernen“ ist eines der Förderprogramme des NRW-Schulministeriums, die – wie „Extra-Personal“, „Extra-Blick“ oder „Extra-Geld“ – das „Ankommen und Aufholen“ in und nach der Pandemie unterstützen soll. Grundsätzlich sind die Schulen selbst Träger der Extra-Zeit; die Siegener Universität hat beim Land mit Erfolg dafür geworben, auch Projektträger sein zu dürfen. „Für die Schulen ist das sehr aufwändig“, erklärt Carolin Quenzer-Alfred, „mit dem Projekt ist ein sehr hoher Dokumentationsaufwand verbunden.“ Das Team am Lehrstuhl des Erziehungswissenschaftlers Prof. Dr. Daniel Mays springt an dieser Stelle ein, übernimmt Verwaltung, Organisation, stellt Personal und bringt so den vom Land geforderten Eigenanteil ein. „Das ist ein ehrenamtliches Projekt, wir machen das on top“, sagt Thomas Tigges, wie Carolin Quenzer-Alfred wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl.

Wie funktioniert Extra-Zeit?

An den Schulen - fast alle Schulformen sind vertreten – und Jugendtreffs entstehen Gruppen von jeweils acht bis 15 Jugendlichen, die Unterstützung wünschen und brauchen. Betreut werden die Teams jeweils von Tandem mit Studierenden und pädagogischen Fachkräften, zum Beispiel Mitarbeitende der jeweiligen Einrichtungen oder Referendare. Die Standorte selbst bestimmen das Programm: Bei den einen geht es um emotionale und soziale Bedürfnisse – da ist dann zu Beispiel Teambildung gefragt, werden Ausflüge in den Freudenberger Kletterwald, ins Odysseum nach Köln oder in eine Tropfsteinhöhle unternommen. Andere haben nachhilfeähnliche Schwerpunkte gesetzt, versucht, Defizite in Unterrichtsfächern aufzuholen. Manche haben sich für Ferienangebote entschieden, andere treffen sich in einer Woche an jedem Nachmittag. 126 Projekttage zu jeweils sechs Stunden standen im vorigen Jahr zur Verfügung, weitere 91 sind in diesem Jahr bewilligt.

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Wie kommt das Angebot an?

„Der Bedarf war noch größer“, berichtet Melanie Lück, pädagogische Mitarbeiterin des Lehrstuhls. „Es hätten gern mehr Schülerinnen und Schüler teilgenommen. Manche Standorte würden gern das ganze Jahr noch planen“- und nicht nur bis zu den Sommerferien. Sieben Schulen und Jugendtreffs vor allem aus dem Siegener Stadtgebiet können aktuell dabei sein, erstmals die Friedrich-von-Bodelschwingh-Grundschule in Buschhütten. Im vorigen Jahr war auch das Gymnasium Netphen beteiligt.

Gibt es Schwerpunkte bei der Extra-Zeit?

Hausaufgabenbetreuung nimmt viel Raum ein, berichtet Thomas Tigges: „Bei denen, denen zu Hause die Unterstützung fehlt.“ Dann Deutsch als Zweit- und Fremdsprache. Überhaupt Deutsch, Mathe, Fremdsprachen. Ebenso aber auch das Programmieren und Experimentieren, der Umgang mit Tablets, Kunst, Kochen, Backen. Und Entspannungs- und Atemübungen. Schwimmen soll ach dazukommen. „Das ist während der Pandemie sehr kurz gekommen“, sagt Thomas Tigges. Kümmern muss sich der Projektträger für all das auch immer um die Unfallversicherung – der Versicherungsschutz der Schule erstreckt sich nämlich nicht auf außerunterrichtliche Angebote. „Das war für viele Standorte einfach nicht leistbar“, sagt Carolin Quenzer-Alfred. „Und auch nicht nachvollziehbar“, fügt Thomas Tigges an.

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Wen trifft die Pandemie besonders?

Auf unterschiedliche Weise alle, gleichermaßen sagt Carolin Quenzer-Alfred. Vom sozialen Status der Familie hängt das nicht ab, „das geht durch alle Schichten.“ Auch in vermeintlich privilegierte Familien, in denen die Berufstätigkeit der Eltern durch die Nutzung aller möglichen Freizeit- und Bildungsangebote für die Kinder begleitet wird – die sind nämlich alle weggebrochen, sodass die Kinder auf sich gestellt waren. Melanie Lück sieht, wie als Erste die Kinder abrutschen, die mit ihren Leistungen sowieso auf der Kippe standen. „Bei denen, die noch einen Puffer hatten, fällt das weniger auf.“ Austausch untereinander und Förderung sind ausgeblieben. „Das Voneinander--Lernen fällt ganz weg.“

Andere Projekte

Extra-Zeit wird im Siegerland auch außerhalb der Uni-Projektträgerschaft genutzt. In Neunkirchen wurde die Gemeindejugendpflege tätig, in Hilchenbach die Carl-Kraemer-Realschule.

Die Stadt Kreuztal hat die Trägerschaft für Projekte beim Gymnasium, der Clara-Schumann-Gesamtschule, der Grundschule an Dreslers Park, der Dorfgemeinschaft Eichen in Zusammenarbeit mit der Grundschule Eichen-Littfeld, dem Kindelsberg –Lachsbach Förderschulverbund sowie der Jugendbegegnungsstätte in Zusammenarbeit mit der Clara-Schumann-Gesamtschule

Hat sich die Extra-Zeit verändert?

„Wir sind mit der Erwartung gestartet, dass wir ein Projekt für die Nach-Corona-Zeit machen“, erinnert Thomas Tigges. Nach der Winter-Welle im Mai 2021, bevor Delta und Omikron auf den Schirm kamen. Tatsächlich sind die Schulen offen geblieben. „Die Kinder haben jetzt persönliche Schulschließungen, sie gehen reihenweise in Quarantäne.“ Mittlerweile, schätzt Thomas Tigges, wäre eine Fortsetzung des Projekts auch im nächsten Schuljahr „wahrscheinlich sinnvoll“. „Wir sind von Normalität weit entfernt, die Folgen werden erst später noch sichtbar werden“, glaubt Melanie Lück, die selbst Mutter eines Schulkinds ist. „Ich bin jeden Morgen froh, wenn es Viertel vor Neun ist.“ Dann erst steht fest, ob es wirklich einen Schultag gibt. Oder Quarantäne.

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Was ist an den Schulen passiert?

„Da hat sich viel getan“, berichtet Thomas Tigges über die Entwicklung an den Schulen, über Innovationen, über Digitalisierung. Nur: „Das hilft nicht, wenn Schülerinnen und Schüler nicht in die Schule kommen können oder dürfen.“ Und: „Die Personaldecke an den Schulen hat sich nicht verändert.“ An den Grundschulen, berichtet Melanie Lück, sei die Belastung durch das regelmäßige Testen dazugekommen. „Ein guter Teil des Unterrichts geht dafür drauf. Die sind froh, wenn sie den Betrieb überhaupt am Laufen halten können.“

Was ist bei der Extra-Zeit gewichtiger: das Nachholen von Unterrichtsstoff oder der Ausgleich für soziale Defizite?

„Das hält sich die Waage, kann je nach Gruppe unterschiedlich sein“, antwortet Melanie Lück. „Das Eine beeinflusst das Andere“, stellt Thomas Tigges fest: Wenn zum Beispiel ein Jugendlicher Angst entwickelt hat, vor einer Gruppe zu sprechen, dann wird er kein Referat zu einem Sachthema halten können.

Was denkt das Team über die Extra-Zeit?

„Das Interesse der Kinder und Jugendlichen ist nicht gesunken“, sagt Carolin Quenzer-Alfred. Thomas Tigges betont, dass die Schülerinnen und Schüler das Angebot freiwillig wahrnehmen. „Das täten sie nicht, wenn sie den Bedarf für sich nicht erkennen würden.“ Dass die Jugendlichen dabei auch in den Jugendtreffs keineswegs vor allem Freizeitbeschäftigungen nachgeholt, sondern Schulstoff gelernt hätten, „hat mich beeindruckt“, sagt Carolin Quenzer-Alfred. „Das zeigt, wie Schule in den Freizeitbereich eingedrungen ist“, sagt Thomas Tigges, „und umgekehrt.“

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