Müsen. Der Hilchenbacher Lothar von Seltmann erzählt, wie seine Krankheit erst lange nach der Infektion beginnt – und wie viel Kraft das Virus kostet.

Eigentlich, so beginnt Lothar von Seltmann seinen Bericht, sei er nur vorbeigelaufen, um seine Frau Ulla zum Essen abzuholen. Anscheinend haben die ein, zwei Minuten an jenem Oktobertag 2020 im Schwarzwald gereicht. Ein paar Tage später, die Seltmanns sind schon wieder zu Hause in Müsen, meldet sich die Bekannte, mit der Ulla von Seltmann im Gespräch war: Sie hat Corona. Vom Gesundheitsamt in Calw folgt die Anweisung an das Ehepaar, sich in Quarantäne zu begeben. Ulla von Seltmann hat einen negativen, Lothar von Seltmann einen positiven Test. Krank werden beide nicht. Lothar von Seltmann aber bekommt Long Covid. Bis heute hat der 78-Jährige nicht zur alten Form zurückgefunden.

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Der pensionierte Lehrer und Buchautor ist Silvester 2021 aus der sechswöchigen Reha zurückgekommen. Das Ehepaar lebt mit Corona. Etwas anders, als sich Wissenschaftler und Politiker das vorstellen, wenn sie die Menschen darauf einstimmen, sich auf das Leben mit dem Virus einzurichten. Ulla von Seltmann hat sich den Alltag mit einem handgeschriebenen Zettel vereinfacht. Sie hat in Stichworten aufgeschrieben, was sie immer wieder antwortet, woran es ihren Mann fehlt: Fatigue, Erschöpfung, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Atembeschwerden, Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, Brustschmerzen, Frost. Der Einfachheit halber überreicht sie nun einfach den Zettel, auf den ihr Mann noch die Gürtelrose dazu geschrieben hat. Nichts davon sieht man ihm an.

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Long Covid: Schwach werden

Im Januar 2021, erzählt Lothar von Seltmann, seien die ersten Symptome gekommen. „Ich wurde schnell müde, fühlte mich erschöpft. Das war ein ganz komischer Zustand.“ Er beginnt ein neues Buch, eine seiner Romanbiografien, über den 1820 geborenen ehemaligen Falschmünzer Ohm Michel, der im Siegerland ein frommer Prediger wird. „Ein Kapitel habe ich noch fertig gekriegt.“ Seinen Verdacht festigt ein Fernsehbeitrag, im Frühjahr geht er zum Arzt. „Da kam ich schon aus dem Unterdorf nicht mehr zu Fuß nach Hause.“ Ein Freund kam mit dem Auto vorbei und nahm ihn mit.

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Man weiß noch nicht viel über Long Covid am Anfang des vorigen Jahres. Vielleicht hat die Infektion, die nach außen gar nicht ausbrach, im Körper weitergetobt, sodass der Angriff des Impfstoffs dem schon geschwächten Immunsystem den noch schwereren Schlag versetzt: Eine Gürtelrose bricht aus, ein schmerzhafter, am Anfang auch ansteckender Hautausschlag. „Ich habe wochenlang nur von Ibuprofen gelebt.“ Danach kommt die Atemnot dazu. „Ich kam kaum noch die Treppe hinauf.“ Lothar von Seltmann hält sich auf dem Laufenden, tauscht sich mit dem Hausarzt aus. Im Laufe der Monate wird Long Covid bekannter, inzwischen gibt es auch Kliniken, die mit den Symptomen der neuen Krankheit umgehen.

Reha: Am Stock gehen

„Ich bin am Stock gegangen“ - im Wortsinne. Die Kinder machen sich Sorgen um ihren Vater, nehmen die Gedächtnisprobleme ihres Vaters zur Kenntnis. Zieht da eine Demenz auf? Lothar von Seltmann wird später in der Reha einen neuen Fachbegriff lernen. „Brain Fog“. Auf Deutsch: Hirnnebel. Mitte November 2021 geht er in die Mediclin-Klinik nach Eckenhagen. Er trifft auf andere Long-Covid-Patienten im Rollstuhl. Auf eine noch junge Erzieherin, die so gern in die Kita zurück möchte, aber noch nicht einmal einen Text verstehen kann, den sie gerade gelesen hat. Auf einen Unternehmer, der seinen Betrieb schließen und seine Mitarbeiter entlassen musste. „Ich ging am Stock, aber ich ging noch. Mein Kopf war klar – denken konnte ich noch, nur langsam.“

Info

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat auf ihrer Seite infektionsschutz.de Informationen über Long und Post Covid zusammengestellt. Dort können auch Empfehlungen zur Rehabilitation und Adressen von Selbsthilfegruppen heruntergeladen werden.

Das Programm reicht von Konzentrationsübungen bis zum Gleichgewichtstraining, von der Gesprächsgruppe bis zum Ergometer. Auf dem bewegten Untergrund einer vierfachen Gummimatte stehen, sich nach einem aus der Hand gefallenen Gegenstand bücken - all das muss geübt werden. Lothar von Seltmann arbeitet hart, verdoppelt in den sechs Wochen seine Leistung auf dem Fahrrad, nutzt die langen Flure und die Treppenhäuser der Klinik fürs Gehtraining. „Zwei Treppenhäuser habe ich am Ende geschafft.“

Auch an den Weihnachtsfeiertagen arbeitet die Klinik, setzt die Therapien fort, öffnet die Muckibude. Heimaturlaub macht keinen Sinn – danach wäre die Quarantäne gekommen. Heiligabend dürfen sie sich für eine Stunde sehen, in der Turnhalle der Klinik, am Tisch einander gegenüber sitzend, auf Abstand. „Es war so ungemütlich“, erinnert sich Ulla von Seltmann an den Besuch. Bis zum 2. Januar ist die Reha verlängert. Lothar von Seltmann verpasst nichts, als er Silvester um vorzeitige Heimreise bittet.

Heute: Kräfte schaffen

Vor dem Fernseher einschlafen? Ihm war das früher nicht passiert. „Die Fatigue ist elend, weil man so wenig dagegen machen kann.“ Inzwischen schafft Lothar Seltmann auch das wieder: mit Konzentration die Nachrichten und den Sport verfolgen. „Ich hoffe, dass ich auch bald wieder an den Computer gehen kann.“ Das Genesen braucht Zeit: „Ich bin ein kleines bisschen mobiler geworden, aber einen Kilometer laufe ich noch nicht.“ Der Alltag ist Arbeit an den eigenen Kräften: Atemgymnastik, Treppensteigen, das Laufband im Obergeschoss, zwei Mal in der Woche Physiotherapie, im Frühjahr wieder das E-Bike.

Was bleibt, außer den gesundheitlichen Beschwerden? Lothar von Seltmanns Gedanken sind bei den vielen jüngeren Mitpatienten. „Mich hat es bewegt, wie sie mit diesem Phänomen Long Covid umgehen müssen.“ Mit ihren Zukunftsängsten, wann sie wieder ihrem Beruf nachgehen, für ihre Familien sorgen können. „Und die auch damit zu kämpfen hatten, dass es ihnen niemand glaubte.“ Dieses Kranksein mit Long Covid, das so viel unsichtbarer, aber auch so viel schmerzlicher ist als die akute Infektion selbst. Und deshalb sollte Lothar von Seltmanns Geschichte hier erzählt werden.

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