Siegen. Lebensläufe in der neuen Ausgabe von „Siegerland“: War Siegens Oberbürgermeister Mittäter der Nazis? Oder „Kümmerer“?

Geschichte hat einen langen Arm: In die aktuelle Gegenwart führt ein Aufsatz von Raimund Hellwig in der neuen Ausgabe von „Siegerland“, der Zeitschrift des Siegerländer Heimat- und Geschichtsvereins. Er reichert das im vorigen Sommer dem Siegener Rat vorgelegte „Biogramm“ über den ehemaligen Siegener Oberbürgermeister Alfred Fissmer an.

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Fissmer

Auch er stellt die Frage „Manager, Kümmerer, Mittäter?“, kommt zu keiner Entscheidung und regt weitere Forschungen über den Mann an, der das Siegener Rathaus von 1919 bis 1945 geleitet hat, zwei Mal aus der NSDAP ausgeschlossen und drei Mal aufgenommen wurde.

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Die Widersprüche in der Beurteilung dieses Ehrenbürgers der Stadt Siegen bleiben: Ist er Mittäter geworden, als er die Stadt nach der Zerstörung der Synagoge in den Besitz des Grundstücks brachte? Hat er für den Schutz in Siegen lebender Juden gesorgt? Hat er das Leben vieler Siegener gerettet, indem er den Bau der Bunker früh vorantrieb? Oder hat er die Vorbereitung des Krieges unterstützt? Hat er aktiv den Einsatz von Zwangsarbeitern gefördert? War er, wie SPD-Landrat Fritz Fries nach dem Krieg aussagte, wirklich „überzeugter Gegner der Nazis“? Hat er, beginnend mit der Eingemeindung Achenbachs, der Garnison auf dem Heidenberg und der Bebauung von Winchenbach, Wellersberg und Fischbacherberg, die Entwicklung der heutigen Großstadt eingeleitet, einschließlich der ersten, nun gerade wiederbelebten Überlegungen für einen Siegbergtunnel?

Raimund Hellwig hat sich die Archivakten noch einmal angesehen und arbeitet Details heraus: wie Fissmer in die Ränkespiele der widerstreitenden Nazi-Funktionäre verstrickt war, wie er seinen Posten mit Erfolg verteidigte – bis zum Pistolenschuss in die eigene Brust, als er im Krieg beschuldigt wurde, illegale Kaffee- und Spirituosengeschäfte für das Kaisergarten-Hotel zugelassen zu haben. Eine Intrige, sagte Fissmer später im Entnazifizierungsverfahren, aus dem er als „Mitläufer“ entlassen wurde – mit einer Stimme Mehrheit. Die starke Minderheit hielt ihn für unbelastet.

Ins Blickfeld rückte Alfred Fissmer 2019 wegen der nach ihm benannten Anlage: Die Diskussion wurde darüber geführt, ob sie im Rahmen des Stadterneuerungsprogramms „Rund um den Siegberg“ umgestaltet wird. Sie wird nicht. Und sie behält auch ihren Namen.

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Röhrig und Stutte

In der neuen „Siegerland“-Ausgabe enthalten sind zwei ungewöhnliche biografische Aufsätze:

Dr. Andreas Bingener und Gerhard Moisel, letzter Vorsitzender der Familienkundlichen Arbeitsgemeinschaft des Heimat- und Geschichtsvereins, haben die Autobiografie von Johann Christian Röhrig editiert: Neun Seiten, auf denen der Obersteiger und Kunstmeister Johann Christian Röhrig (1721-1812) seinen Lebenslauf aufgeschrieben hat. Der Kunstmeister – heute würde die Berufsbezeichnung wohl Ingenieur lauten – hat wasser- und windgetriebene Anlagen für Bergwerke entwickelt, „technische Meisterleistungen früherer Jahrhunderte“, stellen die Bearbeiter fest, die den „ganßen Lebenslauf“ gründlich dokumentieren und erläutern und so seine Bedeutung weit über die Person hinaus verdeutlichen. Der Westerwälder Johann Christian Röhrig wurde sehr alt. 1801 beendet er seine Aufzeichnung „Da ich nun 81 Jahr alt bin und Gräffte und Gehör fort ist und darbey ein gebrechlichen Leib habe, da ich mannichmahl große Schmertzen habe, daß ich mür offt den Toht wische. Ich verlasse mich aber auf Gott und guthe Leude.“

Anna Catharina Stutte starb 1842 in Obersetzen. Vorher lebte sie in der Schweiz und in Mexiko, wo sie den Oberbergmann Johann Henrich Stutte geheiratet hatte. Sie ist, unter anderem über ihren Schwiegersohn Jacob Schmick in Unglinghausen und dessen Bruder Prof. Karl Heinrich Schmick, „Vorfahrin vieler Siegerländer Familien“, wie die Autoren Markus Krämer und Gerhard Moisel feststellen. Nur: Ist sie Tochter des Bergwerksdirektors Jakob Ulrich von Albertini, wie es in den Stammbäumen der Familie steht? Oder ist sie, wie es bei der nachgeholten kirchlichen Trauung 1835 ins Netphener Traubuch eingetragen wurde, 1795 geborene Tochter von Anton Gries und Anna Margaretha Schmalschläger aus Neustadt/Wied? Die beiden Autoren erzählen eine facettenreiche Geschichte und berichten über ihre Recherche, die am Ende keine Klarheit bringt: Sie mag Mündel der Albertinis gewesen sein, vielleicht auch eine uneheliche Tochter, keinesfalls aber die, als die sie sich in Netphen ausgab, auf jeden Fall – so das Fazit – geheimnisvoll.

Außerdem im „Siegerland“

Außerdem im „Siegerland“: Ein kurzer Aufsatz der Landschaftsarchitektin Jutta Curtius. Sie hat ­herausgefunden, dass Ente, Seehund und Schwein, die drei Spielplatzfiguren im Dr. Dudziak-Park im Geisweider Wenscht, 1962 nach Modellen von Clemens Pasch hergestellt wurden, ursprünglich preisgekrönte Arbeiten für einen Spielplatz in Bonn – und nicht von der Siegerländer Künstlerin Ruth Fay, der die Werke bisher irrtümlich zugeschrieben wurden.

Abgedruckt wird auch der populär gefasste Aufsatz über den Siegerländer Hauberg, den der frühere Wilnsdorfer Gemeindedirektor Karl Schmidt erstmals 1986 zur 800-Jahr-Feier Wilnsdorfs erstmals veröffentlicht hat.

In einem weiteren Beitrag, den wir in dieser Zeitung bereits vorgestellt haben, berichtet Wilfried Lerchstein über Menschen, die nicht freiwillig in Deuz lebten: über die Kriegsgefangenen, die im Stalag IX A bei Irle Granaten bauen mussten, und über die „Arbeitsleute“ im Arbeitsdienstlager 9/209 – beide in Baracken, die in Dreis-Tiefenbach gefertigt wurden und die in derselben Bauart auch deutschlandweit Verwendung fanden.

Die neue Ausgabe der Zeitschrift „Siegerland“ kann über den Buchhandel und beim Siegerländer Heimat- und Geschichtsverein bezogen werden.