Siegen-Wittgenstein. Eigentlich sollte ab Dienstag im Kreis Siegen-Wittgenstein eine Impfstudie mit Kindern starten. Doch die muss kurzfristig verschoben werden.

Rund 30.000 junge Menschen ab 12 Jahren im Kreisgebiet Siegen-Wittgenstein sollten eigentlich ab Dienstag, 13. Juli, im Rahmen einer großangelegten Studie eine Corona-Schutzimpfung mit dem Vakzin von Biontech/Pfizer erhalten. Da aber die Genehmigung des NRW-Gesundheitsministeriums nicht schriftlich vorliege, müsse der Start der Studie abgesagt werden, teilte der Kreis am Montag in Siegen mit. Sobald die offizielle Genehmigung für die Impfstudie in Form des erwarteten Sondererlasses vorliege, werde es einen neuen Termin geben, hieß es in Siegen.

Ziel ist es, neben der Erhöhung der Impfquote gerade für die bislang in der Pandemie oft vernachlässigte junge Altersgruppe, wissenschaftlich fundierte Daten zu erhalten, um Erkenntnisse für die weitere pandemische Entwicklung zu gewinnen. Bei vielen Maßnahmen sei bisher nicht auf die tatsächlichen Effekte geschaut worden.

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Partner der Projektes sind neben Kreisverwaltung und Impfzentrum sowie Uni Siegen die Universität des Saarlandes, sowie die Ruhr-Universität Bochum mit beiden Uni-Kliniken sowie Fachkliniken und Kinderärzte aus der Region; das Netzwerk hat die Studie seit drei Monaten vorbereitet. Die Ethik-Kommission der Ärztekammer Westfalen-Lippe und der Uni Münster unterstützen die Studie. Neben der Impfung selbst können die Personen Fragebögen ausfüllen, aus deren Auswertung sich die Forschungspartner Erkenntnisse darüber versprechen, wie man in vergleichbaren Situationen künftig besser aufgestellt sein kann.

Angesprochen sind alle Schüler, Berufsschüler und Studierende in Siegen-Wittgenstein

Die Online-Befragung – die Teilnahme daran ist auch ohne Impfung möglich, genauso wie die Impfung ohne Befragung – widmet sich vier Themen: Lebensqualität der Jugendlichen, ihre Mediennutzung, persönlichen Stärken und Schwächen während der Pandemie sowie Einzelheiten zur Impfbereitschaft. „Den massivsten Leidensdruck haben Kinder, wenn sie das Gefühl haben, an etwas Schuld zu sein“, so Prof. Eva Möhler, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Uni-Klinikum des Saarlandes. Wenn sie das Gefühl hätten, ihre Eltern anstecken zu können etwa.

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Die Untersuchung ist regional auf den Kreis Siegen-Wittgenstein beschränkt. Die Uni Siegen hat knapp 20.000 Studierende, davon leben etwa 10.000 in der Umgebung, die Berufsschulen haben ein großes Einzugsgebiet bis in die Nachbarbundesländer, sowie einige Schulen in der Region. Die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die diese Einrichtungen besuchen, kommen als potenzielle Impflinge in Frage. Minderjährige benötigen eine Einverständniserklärung der Eltern und sollten auch von wenigstens einem Elternteil zum Termin begleitet werden.

Vergleichsregion zu Siegen-Wittgenstein ist der Märkische Kreis. Dort gebe es ein ähnliches Infektionsgeschehen bei einer ähnlichen Altersstruktur sagt Dr. Thorsten Lehr, Professor für klinische Pharmazie an der Universität des Saarlandes: „Was passiert hier in dieser Altersgruppe – und was passiert da, wo wir die Impfungen nicht anbieten.“

Kinder und Jugendlichen geht es während der Corona-Pandemie immer schlechter

Bei den 15- bis 34-Jährigen gebe es derzeit die relativ höchste Inzidenz, doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt, so Prof. Lehr. In dieser Gruppe wolle man intervenieren. „Ich erlebe es als Großvater, was die Pandemie für die Kinder bedeutet“, sagt Dr. Thomas Gehrke, ärztlicher Leiter des Siegener Impfzentrums und Ideengeber für das Pilotprojekt. Jeden Tag nicht in die Schule zu gehen, Freunde nicht zu sehen, das Sporttraining nicht besuchen zu können, habe die Kinder verändert. Sie fühlten sich einsam, hätten weniger Spaß im Leben. Eine schnelle und vergleichsweise sichere Rückkehr an die Schulen soll mit einer Erhöhung der Impfquote in dieser Gruppe erreicht, das Ansteckungsrisiko für Eltern und Umfeld gesenkt und damit das Infektionsgeschehen insgesamt stärker eingedämmt werden.

Die Beobachtungen aus Gehrkes privatem Umfeld bestätigt Prof. Eva Möhler: Die Suizidversuche unter Mädchen habe sich verdoppelt, die Zahl der spielsüchtigen Jungen verdreifacht. Die Zahl der Essstörungen sei ebenfalls um 100 Prozent gestiegen, 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen berichteten von einem deutlichen Abfall ihrer Lebensqualität, viele von Konzentrationsstörungen. „So kann man es nicht lassen“, bekräftigt Möhler, jungen Menschen müsse die Möglichkeit gegeben werden, wieder an der Gesellschaft teilzuhaben. „Ein elementares Grundbedürfnis, wie Essen und Trinken.“ Der Anstieg von Schulphobien, Ängsten und Depressionen habe ein Ausmaß erreicht, wie sie es noch nie erlebt habe.

Im Impfzentrum Siegen gibt es derzeit mehr Impfstoff als Impfwillige

Wenn sich nichts ändere, werde demnächst die erste Generation Studierende die Uni verlassen, die nie ihre Hochschule und ihre Kommilitonen gesehen haben, so Prof. Alexandra Nonnenmacher, Bildungs-Prorektorin der Uni Siegen. Die Schließung sei entscheidend und notwendig gewesen, es habe auch funktioniert, aber „Uni sieht eigentlich anders aus“. Gleiches gelte natürlich für die Schulen. Für das Bildungswesen gelte: Ohne ausreichend hohe Impfquote könne es keinen sicheren Präsenzbetrieb geben, „da muss sich dringend was ändern“ – daher die Studie. Jeder Geimpfte mehr sei ein Erfolg, bekräftigt Prof. Lehr.

Delta-Variante könnte ohne Impfung für weitere Einschränkungen für junge Leute führen

Die aktuell zurückhaltende Haltung der Ständigen Impfkommission (Stiko) für 12- bis 15-Jährige sei Resultat der mangelnden Datenlage, so Dr. Folke Brinkmann, Pneumologin an der Universitäts-Kinderklinik Bochum. Kleinere Studien hätten eine gute Wirksamkeit der mRNA-Impfstoffe bei kaum Nebenwirkungen gezeigt, „das reicht aber nicht für eine Empfehlung“, erläutert die Lungenärztin. Noch nicht: In Nordamerika seien inzwischen mehr als 3 Millionen Jugendliche ohne schwere Nebenwirkungen geimpft, die Expertin erwartet, dass die Stiko ihre Empfehlung demnächst anpasst.

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Das Risiko, schwer zu erkranken, sei zwar auch in dieser Altersgruppe gering, man sehe aber durchaus schwere Verläufe und langfristige Covid-19-Folgen bei jungen Menschen, sagt Brinkmann. Und wenn die Infektionszahlen in dieser Gruppe nicht gesenkt würden, seien sie weiter von Einschränkungen betroffen, je nachdem wie sich das Infektionsgeschehen durch die Delta-Variante entwickelt. „Die Impfbereitschaft ist drastisch gesunken“, sagt Thomas Gehrke. „Jeder zusätzliche Geimpfte ist gut.“ (mit dpa)