Siegen. Die Internationale Förderklasse des Berufskollegs Siegen lernt wieder in der Schule. Doch es gibt große Defizite aus der Zeit des Homeschoolings.

Sie haben es ohnehin nicht leicht. Die Monate der Schulschließung waren für Jugendliche mit Fluchthintergrund noch schwerer. Denn Ankommen und Deutsch sprechen funktioniert über Begegnungen. Seit einigen Wochen können nun auch die Schülerinnen und Schüler der drei Internationalen Förderklassen am Berufskolleg Wirtschaft und Verwaltung in Siegen wieder in der Schule lernen. Dass sie eine Menge aufzuholen haben, wissen Lisa Taplick und Ulrike Latsch. Die beiden Lehrerinnen mussten den Distanzunterricht über den Postweg organisieren, denn vorerst fehlte es an Laptops. Ihr Engagement reichte dabei weit über das Fachliche hinaus.

Große Niveau-Unterschiede bei geflüchteten Jugendlichen in Siegener Berufskolleg

Jugendliche wie Dustum Akramy schätzen sie dafür. Trotzdem ist der 17-Jährige ist erleichtert, dass das Distanzlernen vorbei ist. „Wir haben viel Deutsch geübt. Aber manche Aufgaben waren schwer zu verstehen.“ In solchen Momenten hätte er gerne einfach kurz nach nach einer Erklärung gefragt. „Das geht besser in der Schule“, sagt Dustum Akramy. „Ich bin seit einem Jahr und sechs Monaten in Deutschland. Meine Mutter ist in Afghanistan“, erzählt er. In Siegen lebe er in einer Wohngruppe des evangelischen Jugendhilfe Friedenshort.

Bei Schülern wie ihm werde der Unterschied zu anderen deutlich, sagt Lisa Taplick: „Man merkt sofort, wenn wie beim Friedenshort ein Betreuer dahinter steht, mit dem sie sich auf Deutsch unterhalten könnten.“ Viele andere hätten in den letzten Monaten zuhause gar kein Deutsch gesprochen.

Einige müssten deshalb nun wiederholen: „Die wollten eigentlich ihren Hauptschulabschluss machen, aber sie müssen ein Jahr dranhängen.“ Mit allem anderen tue man ihnen keinen Gefallen. Die Zeit der Schulschließungen, so Lisa Taplick, habe die Lernrückstände insgesamt verstärkt – vor allem aber auch „die eh schon bestehende Kluft zwischen den unterschiedliche Niveaus vergrößert“, sagt sie. Grundsätzlich sei die 12-köpfige Klasse sehr heterogen. Nicht nur die Nationalitäten und Muttersprachen seien vielfältig, auch die Altersspanne; von 16 bis 20. Die Hintergründe könnten verschiedener kaum sein: „Da sitzt einer, der kommt in Afghanistan vom Gymnasium, und einer aus Eritrea, der hatte davor noch nie eine Schule gesehen.“ Ihnen müsste man erstmal „die Basics beibringen: melden, hinsetzen, Hausaufgaben machen, pünktlich sein“.

Hinzu komme: Manche, wie auch Dustum Akramy seien nicht in ihrer Muttersprache alphabetisiert: „Ich habe in Afghanistan kein Arabisch-Lesen gelernt. Erst auf Deutsch lerne ich jetzt die Buchstaben“, erzählt er selbst. Während der Zeit ohne Schule sei das oft ermüdend gewesen: „Man liest ein bisschen oder schreibt und dann hat man schon keine Lust mehr.“ In Präsenz sei die Motivation wieder zurückgekehrt: „Weil man da auch mit Freunden zusammenarbeiten kann.“ Klar mit Maske, „aber das ist für mich kein Problem.“ Dustum Akramy übersetzt für einen Mitschüler, der weniger gut Deutsch spricht, die Frage, ob die Masken für ihn ein Problem beim Verständnis darstellten. „Bei den Umlauten schon“, übersetzt er dessen Antwort. Da helfe es einfach, die Lippenbewegungen zu sehen. Natürlich wisse aber auch er, dass sie eben sein müssen.

Technik als Hilfe fürs Sprachenlernen in Siegener Berufskolleg

Durch diese unterschiedlichen Niveaus variiere auch die Lesegeschwindigkeit stark. „Dafür benutzen wir ‘Ting-Stifte’“, erklärt Lisa Taplick. Das sind sogenannte „Hörstifte“ mit einem Sensor an der Spitze, der einen Code auf den Buchseiten ausliest. Der wiederum ist mit Audiodateien verknüpft. Dank dieser Technologie können die Schülerinnen und Schüler Lesen und Hören miteinander verbinden – in ihrem eigenen Tempo. Während der Homeschooling-Monate waren diese Stifte eine große Hilfe, sie seien es aber auch jetzt noch im Unterricht.

„Wir haben auch viel über QR-Codes auf den Aufgabenblättern gemacht“, sagt Lisa Taplick. Diese können die Jugendlichen ganz unkompliziert mit ihren Handys scannen und sich den Text dann anhören – extra von ihr vorgelesen. „Ich habe da so eine App“, zeigt sie ihr Handy, „da kann ich Tonspuren für die Schüler hinterlegen, die ich selber eingesprochen habe, oder auch Links und Fotos.“

Die Laptops für die Jugendlichen hätten eigentlich schon im November zur Verfügung gestellt werden sollen, seien aber erst im März gekommen. „Das ist aber auf jeden Fall etwas, wovon die Jugendlichen auch noch in Zukunft profitieren werden“, sagt Daniel Kring.

Soziales Engagement von Lehrkräften an Siegener Berufskolleg

Er leitet eine der beiden anderen Internationalen Förderklassen, die sich im Berufskolleg alle auf dem gleichen Flur befinden. Mit Lisa Taplick und Ulrike Latsch arbeitet er eng zusammen. „Wir betreuen den Übergang der Jugendlichen gemeinsam.“ Denn gleichzeitig leitet er eine der Klassen mit höherem Niveau, in die die Jugendlichen dann später wechseln. „Ich kenne die dann schon, da ist dann eine Schnittstelle.“

In der Grundlagenklasse bleiben die Jugendlichen in der Regel ein Jahr. „Bei der Einschulung machen wir einen Sprachtest und dann sortieren wir sie in die Klassen ein.“ In den anderen beiden Internationalen Förderklassen an der Schule könne man einen Abschluss machen – anders als in der Vorbereitungsklasse: „Das ist hier noch so die Wohlfühlzone“, sagt Daniel Kring.

Neben dem Deutschlernen gehe es hier vor allem um die Sozialisierung – nicht nur im Kontext Schule. „Das funktioniert nur, weil die Kolleginnen sich in dieser Klasse so richtig reinhängen“, sagt Kring. Auch während der Homeschooling-Zeit sei es vorgekommen, dass einige der Jugendlichen in Notlagen steckten und sie als deutschsprachige Ansprechpartnerinnen kontaktiert hätten – zum Beispiel bei Krankheitsfällen ihrer Familienangehörigen.

Fast alle Jugendlichen seien durch die Flucht traumatisiert „und für viele ist es auch sehr schlimm, dass ihre Eltern nicht hier sind“, sagt Ulrike Latsch. „Für andere wiederum, wo die Familie vor Ort ist, ist die Belastung häufig groß, dass sie sich zuhause um vieles kümmern müssen“ – denn oft seien sie die einzigen, die Deutsch sprechen. „Das ist für uns auch ziemlich schwer“, erzählt sie. „Ich persönlich würde ja sagen: Es ist okay, wenn du erst warten musst, bis euer Kühlschrank geliefert wird und deshalb zu spät kommst.“ Gleichzeitig ginge es aber ja darum, ihnen gewisse Regeln wie Pünktlichkeit beizubringen. Andernfalls bekämen sie in den anderen Klassen Probleme.

Auch bei ganz alltäglichen Dingen fragten die Jugendlichen sie oft um Rat: „Der Hussein meinte gerade eben noch, ob ich für ihn beim Zahnarzt anrufen könnte“, so Lisa Taplick. „Man macht Termine bei Ärzten, Jobcentern und Vermietern“. Bei Daniel Kring hätten Schüler schon zeitweise zuhause in seinem Arbeitszimmer gewohnt, die sonst in einer Notunterkunft der Stadt gelandet wären: „Mit 18 müssen die aus der Jugendhilfe raus und bekommen dann nicht sofort eine Wohnung.“ Auch bei Dustum Akramy sei das bald der Fall: „2022 muss ich in eine andere Wohnung, aber ich möchte fragen, ob ich noch bleiben darf im Friedenshort“, sagt er. Zum Glück fühle er sich dabei nicht allein gelassen.

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