Burbach/Siegen. Der Prozess um die Misshandlung Geflüchteter in der Burbacher Erstaufnahmeeinrichtung geht zu Ende

Da ist er nun also, der vorletzte Verhandlungstag des Großverfahrens, das weit über die Grenzen des Kreises nach seinem Schauplatz bekanntgeworden ist: Burbach. Vier Angeklagte sind es noch, die für das Finale von der Siegerlandhalle ins Siegener Justizgebäude umgezogen sind.

Drei ehemalige Wachleute und ein früherer Sozialbetreuer sollen wegen gemeinschaftlicher Freiheitsberaubung sowie teils auch wegen Nötigung in zwei, drei sowie vier Fällen unterschiedliche Geldstrafen bezahlen. Wenn es nach den Anträgen von Oberstaatsanwalt Christian Kuhli geht. Dreimal kommt von Verteidigerseite aber auch das Wort Freispruch. Darüber will die Kammer am 7. Juli befinden, nachdem die Angeklagten ob der wiederum längeren Pause am Vormittag Gelegenheit zu ihren letzten Worten bekommen haben.

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Der Ankläger

Gut zwei Stunden dauert es, bis die Schlussvorträge durch sind. „Ich weiß nicht, wie oft Sie Ihr Plädoyer schon gehalten haben. Für uns ist es ja das erste Mal“, merkt Verteidiger Ihsan Tanyolu nach den Ausführungen Christian Kuhlis an, der tatsächlich vieles schon bei den vorherigen abgetrennten Verfahren gesagt hat. Er wiederholt die allgemeine Überforderung aller Beteiligter in der Erstaufnahmeeinrichtung Burbach, die schließlich zu jenem System von Repressalien geführt habe, mit der sich das Gericht nun fast drei Jahre beschäftigen musste.

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Das Video spielt keine Rolle mehr

Der Oberstaatsanwalt ist ausführlicher geworden als in den anderen Fällen, die meist ohne Öffentlichkeit über die Bühne gingen. Jetzt ist der Zuschauerraum erstmals seit langen wieder etwas gefüllt. Die Anwesenden bekommen vor allem auch eine Erklärung, warum der berüchtigte Vorfall mit dem Video-Foto des erniedrigten Bewohners, das durch die ganze Republik ging, keine Bedeutung mehr hat und an diesem Dienstag eingestellt wird. Unter anderem deshalb, weil der Betroffene höchstwahrscheinlich bewusstlos war und deshalb nicht Opfer einer Nötigung geworden sein kann. Für einen Tatverdacht und die Anklage hätten die Anhaltspunkte damals gereicht, sich in der Verhandlung aber nicht erhärten lassen.

Christian Kuhli wirft den vier Männern vor, mit ihrem Verhalten das „System Burbach“ getragen und möglich gemacht zu haben. Er hält ihnen zu Gute, dass sie ihr Verhalten heute anders und mit Bedauern betrachten, nimmt die Reue ernst und hat auch zur Kenntnis genommen, dass die Wachleute H. und O. durchaus ein gutes Ansehen in Burbach hatten. Beide sind aufgefallen, weil sie Menschen halfen, weil sie gelegentlich eigenmächtig Bewohner aus dem „Problemzimmer“ („PZ“) entließen und sich damit selbst in Schwierigkeiten hätten bringen können.

Strafmaß

Gegen die Wachleute H. und O. hat der Oberstaatsanwalt 2125 und 2800 Euro Geldbuße beantragt. Ihr Kollege G. soll 3750 Euro zahlen, der Ex-Sozialbetreuer L. schließlich 1350 Euro.

Die Verteidiger beantragen Freispruch beziehungsweise niedrigere Geldstrafen.

Die Verteidiger

Bei früheren Urteilen gab es über die Anträge keine größeren Diskrepanzen. Am Schluss des langen Verfahrens, Anwalt Tanyolu rechnet den 72. Verhandlungstag vor, muss das wohl ein wenig anders sein. Er möchte für L. „eine mildere Strafe“ und sieht seinen Mandanten im Gegensatz zum Anklagevertreter nicht in der Lage, damals Job und Wohnung, die beide miteinander verknüpft waren, zu riskieren und sich gegen die Anweisungen von oben zu stellen. Der Jurist sinniert über den Sinn eines derart langen Verfahrens, das nun mit überschaubaren Geldstrafen ende, hält insgesamt aber die öffentliche Aufarbeitung für richtig und notwendig. Nach Burbach seien andere Maßstäbe an Vor- und Ausbildung für Beschäftigte solcher Einrichtungen angelegt worden. Für die Angeklagten zu spät, die mehrheitlich „von Tuten und Blasen keine Ahnung hatten“, die für jene an der Front gestanden hätten, die sich in den Chefetagen die Taschen füllten. Burbach zeige, wie wichtig Kontrolle sei, was auch ganz aktuell in der Pandemie wieder deutlich werde. Hier wie dort seien neue ­Herausforderungen an die Gesellschaft gestellt worden.

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Eng mit der Polizei kooperiert

Für G. betont Anwalt Alexander Reitmeier, dass alle angeklagten Taten eine Folge des Systems gewesen seien, denen die Angeklagten sich nicht so einfach hätten entziehen können. Sein Mandant sei zudem von einem Bewohner ernsthaft verletzt worden. Er fordert in einer Sache Freispruch und ansonsten eine maximale Strafe von 1600 Euro für den bedauerlichen Auftritt im berüchtigten Video.

Verteidiger Tim Timmer sieht keine strafrechtliche Verantwortung für H. und beantragt Freispruch, hilfsweise eine geringe Geldstrafe. Der Angeklagte habe als „einer von den Netten“ in Burbach gegolten. Dennoch sei er zu Beginn des Verfahrens in die letzte von fünf Kategorien eingeordnet worden, als einer, der wegen Vorstrafen und Verdachts einer Körperverletzung mit einer vollstreckbaren Freiheitsstrafe habe rechnen müssen. Davon sei nichts geblieben, es habe den Mann aber zusätzlich belastet, der schon im Vorfeld eng mit der Polizei kooperiert und dieser etwa zahlreiche Wachbücher übergeben habe: „Die er unter Umständen auch hätte verschwinden lassen können.“

Anweisung der Heimleitung

Bleibt noch O., für den Anwalt Daniel Walker ebenfalls Freispruch verlangt. Er habe zu Beginn nie erwartet, ein derart kurzes Plädoyer halten zu können, sagt der Betzdorfer und greift zum Abschluss noch einmal tief in die Kiste der juristischen Feinheiten. Sein Mandant sei zu der bekannten Video-Situation hinzugekommen. Er habe aus seiner Sicht mit der Aufforderung an das Opfer, er solle jetzt still sein, sonst gebe es noch einen Schlag, eben diesen Schlag verhindern wollen. Ob ein Einwirken auf gewaltbereite Kollegen tatsächlich etwas bewirkt hätte, sieht Walker skeptisch. Beim Verbringen von Personen ins „PZ“ habe sich O. in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befunden. Die Anweisungen der Heimleitung und auch der Polizei, Unruhestifter einzusperren, hätten den Wachleuten ein entsprechendes Gefühl der Rechtfertigung gegeben. Und nur, weil keine Beweise für das Mitwissen der Polizei im Prozess vorgelegt worden seien, spreche dies nicht gegen deren Existenz.

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