Siegen. Um auch in Zukunft Menschen zu erreichen, muss Kirche neue Wege einschlagen. Interview mit dem Siegener Superintendenten Peter-Thomas Stuberg.

Kirche muss sich verändern, wenn sie für größere Teile der Gesellschaft relevant bleiben will, ist Peter-Thomas Stuberg überzeugt. Der Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Siegen skizziert im Interview Schwierigkeiten und Lösungsansätze. Gefragt sind dabei nicht nur neue Formate und neue Beteiligungsformen – sondern deren Kombination mit den klassischen Stärken der Kirche.

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Reden wir über Probleme. Hat die Evangelische Kirche eins?

Peter-Thomas Stuberg: Wir haben ein nicht zu leugnendes Problem, das wir mit vielen anderen Institutionen in der Gesellschaft teilen: die Demografie. In den 1960er Jahren hatten wir im Kirchenkreis Siegen 180.000 Gemeindeglieder, jetzt sind es 109.000. 71.000 weniger: Das sind nicht alles Austritte.

Nicht nur. Aber auch.

Ja. Aber wenn man das im Verhältnis betrachtet, beispielsweise für das Jahr 2020: Da gab es etwa 900 Taufen und 860 Austritte. Die Sterbefälle kommen aber als Normalsituation hinzu.

Siegen: Besonders oft treten junge Männer aus der Kirche aus

Die katholische Kirche verliert zusätzlich Mitglieder wegen der Missbrauchsfälle und -vorwürfe. Strahlt das ab?

Sexuelle Gewalt und der Umgang damit; gerade das, was da in Köln passiert – das sind durchaus Themen, die auf uns abschatten.

Unterm Strich bleibt ein deutlicher Mitgliederschwund.

Ja. Aber ich will das nicht dramatisieren, sondern realistisch ins Auge fassen. Wobei wir es natürlich immer, wenn sich Mensch für einen Kirchenaustritt entscheidet, als sehr schmerzhaft empfinden.

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Gibt es eine Gruppe, deren Angehörige sich mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu diesem Schritt entscheiden?

Oft sind es 25- bis 35-Jährige, vor allem Männer, die der Kirche den Rücken kehren. Beim Übergang von der Schule ins Berufsleben kommt dann auch die Kirchensteuer dazu, die sich manche wahrscheinlich sparen möchten. In jedem Fall merken wir da, dass die Bindung an die Kirche nachgelassen hat. Das sehe ich nicht als Untergang des Abendlandes, sondern als Selbstkritik: Was passiert da, dass die Kirche mit ihren jetzigen Angeboten keine relevante Rolle spielt? Ganz anders ist es übrigens bei jungen Familien. Da ist Kirche durchaus wieder von Bedeutung.

Siegener Superintendent Peter-Thomas Stuberg: „Der digitale Raum ist spannend“

Warum verlieren Sie gerade die jungen, kinderlosen Erwachsenen?

Wir haben Kontakt zu Jugendlichen und anderen jungen Menschen – durch den Religionsunterricht an den Berufskollegs oder auch in der Arbeit mit Studierenden. Wir wissen, dass die Interaktion in dieser Altersgruppe in erheblichem Maße digital läuft. Begegnung findet in sozialen Medien und über WhatsApp statt. Menschen, die aus ihrem Heimatort wegziehen, halten die Netzwerke vielfach über den digitalen Weg aufrecht. Wenn wir als Kirche kein Angebot in diesem Bereich machen, sind wir nicht mehr präsent. Und da reicht es nicht, irgendwelche Homepages zu haben.

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Och – so ‘ne schöne Homepage ...

Es reicht heute nicht, in der Kirche ein Drei-Bein-Stativ aufzustellen und den Gottesdienst abzufilmen – obwohl wir da gute Resonanz haben. Wir müssen lebensorientierte Themen im digitalen Raum platzieren und mit unserer Botschaft unterfüttern. Der digitale Raum ist ja auch spannend.

Aber lebt Kirche nicht gerade davon, dass Menschen von Angesicht zu Angesicht miteinander zu tun haben?

Ein analoger Gottesdienst mit Predigt, Gesangbuchliedern und gemeinschaftlichem Gebet ist und bleibt meine Heimat. Das Digitale kann nicht alles ersetzen, als rein alternative Wahl wäre es falsch. Sich ergänzend, da wird’s richtig!

„Wir sind dabei, neu zu lernen, was wir bieten können“

Wie sähe so etwas konkret aus?

Nehmen Sie das Beispiel Sicherheit. Aktuell ist auch topfittes, junges Leben durch dieses Virus gefährdet, es kann außerdem Langzeitfolgen geben. Für den Einzelnen stellt sich da die Frage, wie man für sein eigenes Lebensverständnis damit umgeht. Da müssen wir als Kirche selber nochmal entdecken, welcher Schatz in unserem Fundus liegt, in unserer Schrift. Wir sind dabei, neu zu lernen, was wir bieten können: dass wir die Unsicherheit von unserer Botschaft her beleuchten, dass wir eine Hoffnung haben über den Tod hinaus.

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Die Bibel als Rüstzeug in der Krise?

Bei Petrus heißt es: „Alle eure Sorgen werft auf ihn; denn er sorgt für euch“ – also: Auf Gott. Was bedeutet das nicht nur für uns als Profis, sondern als Menschen?

Ja – und? Was bedeutet es?

Das ist die Substanz, aus der wir leben: Ich weiß, ich habe eine Adresse für meine Sorgen. Ich gebe sie Dir, Gott – selbst wenn ich keine Lösung habe. Diese Botschaft hat eine Kraft, die wir im Miteinander entfalten. Das ist der Kern der Kirche. Und ich gäb’ was drum, wenn wir das den jungen Leuten vermitteln könnten.

Kirchenkreis Siegen: „Kirche ist nicht nur Gottesdienst am Sonntag“

Mit 2000 Jahre alten Texten?

Die Einteilung „alt ist schlecht und neu ist gut“: Die ist in dieser Absolutheit falsch. Die Frage ist: Was trägt – und was ist aufgesetzt und belanglos? Außerdem ist Kirche nicht nur Gottesdienst am Sonntag. Sie ist auch Seelsorge, ist so viele Momente, die passieren – in der Krankenhausseelsorge, im Religionsunterricht, im Altenheim; immer, wenn Menschen merken: Da ist eine Berührung, das stärkt mich, das tröstet mich, das macht mir meinen Blick auf.

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Berufung hin oder her: Kriegen das alle Pfarrerinnen und Pfarrer hin?

Das war schon immer die geheimnisvolle Kraft der Kirche: Dass Leute durch den Talar aufgeleuchtet haben. Aber es geht auch um die vielen Ehrenamtlichen, die sagen: „Ich mache da mit.“ Weil wir einander brauchen. Die Botschaft übersetzt sich in den Typen, die sie übersetzen.

Mehr Beteiligungsmöglichkeiten für die Menschen in den Siegerländer Gemeinden

Mit Runterbeten von auswendiggelerntem Bibelwissen reißt die Kirche heute demnach nichts mehr?

Menschen merken, ob etwas institutionalisiert ist – oder echt. Da haben wir alle ein Sensorium für. Bei Paulus heißt es, Gott „hat einen hellen Schein in unsre Herzen gegeben“. Kirche ist da vital, wo dieser Schein durch die Menschen hindurch leuchtet. Wo das so ist, da mache ich mir keine Gedanken. Da ist Kirche zukunftsfähig. Aber es wird sich viel ändern.

Ich bin ganz Ohr.

Eine Zukunftsfrage ist: Wie stellen wir uns strukturell auf, damit wir ein Angebot und vitales Leben bieten können. Das ist aber eine alten Jacke.

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Gemeindefusionen und dergleichen – schon klar. Und die inhaltlichen Fragen?

Wie schaffen wir Beteiligungsmöglichkeiten, zum Beispiel an Gottesdiensten? Beteiligungsformen sind für mich ein entscheidendes Thema.

Kirchenkreis Siegen: „Es braucht ,Kirche als Bewegung’“

Anstelle von Frontalunterricht im Gottesdienst?

Das Frontale ist manchmal unerlässlich. Aber es wird mehr in Richtung Hybridkirche gehen. Neben der institutionellen Gestalt braucht es „Kirche als Bewegung“. Wir haben das in der Arbeit mit geflüchteten Menschen gemerkt. Da kamen Menschen zu Themen zusammen. Und da hat keiner gefragt „Gehörst Du eigentlich zu unserer Gemeinde?“ Oder, wenn ich einmal etwas konstruiere: Projekte wie ein Dorfladen oder ein Bürgerbus auf Initiative einer Kirchengemeinde. Wer mitmacht, weiß das – aber es kommt niemand an und sagt denen, die sich engagieren: „Wäre aber schön, wenn Ihr getauft wärt.“ Wenn wir jenseits von Etiketten auf Argumente hören: Das wäre eine Form von Kirche als Bewegung. Auch mit begrenzter Mitgliedschaft.

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Das klingt jetzt ein bisschen nach Vereinen oder Chören, die Projekte anbieten, weil viele Menschen sich mit einer langfristigen Bindung schwertun – damit überhaupt noch jemand mitmacht.

Dahinter steht natürlich die Hoffnung auf Klebeeffekte und Verstetigung. Wir brauchen trotz allem die institutionelle Gestalt und die Verlässlichkeit. Aber das kann auch funktionieren – über die ehrliche Begegnung. Gerade die ist ein Thema der Kirche, dass ich an vielen Stellen schon verwirklicht sehe.