Siegen. Das Untere Schloss ist eines der Wahrzeichen von Siegen. Und es birgt nach wie vor Geheimnisse, versteckte Gänge, unerforschte Katakomben...
Immer wieder wurde angebaut und umgebaut; Verbindungen geschaffen und getrennt, zog jemand neues ein und jemand altes aus. Das Untere Schloss hat eine bewegte Baugeschichte; aus dem ursprünglichen Franziskanerkloster wird in wenigen Jahren der Hauptcampus der Universität Siegen.
Auch interessant
Das hinterlässt Spuren – auch solche, die von außen nicht sichtbar sind. Die verborgen sind unter der Oberfläche und hinter uralten Mauern. Der Siegener Markus Jung ist einer, der solche Spuren verfolgt: Für sein Projekt „Siegener Unterwelten“ erforscht er historische Keller, Gänge, Gewölbe, Brunnen.
2020 ist das Untere Schloss 300 Jahre alt geworden. Anlass für eine Spurensuche in und unter den alten Mauern.
Der Keller in der Festungsmauer des Unteren Schlosses
Wo heute Heizungsrohre verlaufen, wurden früher Kohlen gelagert. Zumindest lassen diesen Schluss die Schuttnischen zu, oben, fast unter der meterhohen Decke. Räume für die Bediensteten müssen das gewesen sein, vermutet Markus Jung, Dienstzimmer für die Festungswache etwa. Es gibt diese kleine Tür am Kutschenweg, im Durchgang zum Schlossplatz – das wäre ein Ort, an dem früher bewaffnete Männer aufgepasst hätten.
Verborgene Gänge und Gewölbe im Unteren Schloss in Siegen
Die Kasematten waren früher die wichtigste Verteidigungsanlage der Anlage, sagt Markus Jung – von außen fallen die Mauern steil ab. Vermutlich war die Befestigung vor der alten Stadtmauer gelegen. Mit der Zeit dehnte sich das Schloss aus, auf dem Keller wurden Trakte errichtet, der Festungscharakter schwand, irgendwann war auch eine Wachstube nicht mehr nötig. 1820 erst wurde die Baulücke zum Dicken Turm geschlossen und der Kutschenweg überbaut, sagt der Hobbyhistoriker – vorher konnte man unter freiem Himmel entlang der Schlossmauer auf den Schlossplatz spazieren. Das Kölner Tor ist schon um 1500 verzeichnet, die Siegener Fürsten verleibten es schlichtweg ihrem wachsenden Schloss ein.
Aus dem Gewölbe zweigt eine schmale Stiege ab, auf steinernen Stufen geht es nach oben – direkt unter die Platten des Schlossplatzes. „Der lag früher 2,5 Meter tiefer“, weiß Markus Jung.
Das Gewölbe unter der Bibliothek der Universität Siegen
Die Universitätsbibliothek atmet den Hauch der Geschichte; Zellen und Gefängnistüren aus der früheren Justizvollzugsanstalt wurden erhalten, freigelegte Bruchsteinmauern und Torbögen erhalten. Zwischen Bücherregalen und PC-Arbeitsplätzen gibt es in einer Säule eine unscheinbare Tür – eine Tür zu einem Raum, der nicht da ist. Zumindest nicht in der gleichen Etage: Die Treppen dahinter führen steil nach unten – „ein Vorratsgewölbe“ vermutet Markus Jung.
Auch interessant
Wie auch im Keller unter dem Kurländerflügel trägt Jung Indizien zusammen. Er wälzt alte Pläne, betrachtet die Mauerwerke, sucht nach Relikten und trägt Mosaiksteinchen für Mosaiksteinchen zusammen, bis er eine Theorie dazu entwickelt, was hier in früheren Jahrhunderten los gewesen sein mag. Für den Gewölbekeller spricht aus seiner Sicht die Lage: Darüber waren einst des Fürsten Küchen, außerdem gleicht die Bausubstanz der, die man noch in der Bibliothek eine Etage höher stellenweise bewundern kann. Ein Bauwerk aus einem Guss sozusagen.
Und mit Gewölbekellern kennt sich Jung aus. In Dutzende allein in der Siegener Oberstadt ist er inzwischen hinabgestiegen und hat sie akribisch untersucht, fotografiert und dokumentiert. „In der natürlichen Kühlung unter der Erdoberfläche wurde zum Beispiel Wein gelagert“, weiß er.
Wobei er auch immer wieder auf Indizien stößt, die nicht zu seiner Theorie passen: Die Treppe herunter in den Lagerkeller ist anders gebaut – möglicherweise wurde der Zugang verlegt, als Ende des 17. Jahrhunderts der Nassauische Hof ziemlich komplett niederbrannte. „Es ist immer wieder spannend zu rekonstruieren: Wo war der Zugang früher? Wo wurde umgebaut?“
Der Wehrgang um die Fürstengruft
Fachsimpeln kann Markus Jung mindestens ebenso lange wie Räume und Gänge erforschen, die den Blicken entzogen sind. Noch so eine unscheinbare Tür, die meisten Siegener kennen sie vermutlich und haben direkt wieder vergessen, dass sie da sind. Links und rechts des Fürstengruft-Portals, in gut zwei Metern Höhe sind zwei verschlossene Durchgänge. Dahinter arbeitet René Hebel mit seinen Leuten – die Fürstengruft wird saniert, dazu müssen sie in den Wehrgang.
Auch interessant
Ja, die Gruft wird von einem Wehrgang umschlossen. U-förmig zieht er sich einmal um die letzte Ruhestätte von Fürst Johann Moritz und seiner Familie – die Schießscharten sind vom Park der Martinikirche auch zu sehen. „Das Mausoleum war ursprünglich freistehend, später wurde es ins Schloss integriert“, erklärt Markus Jung.
Rätsel geben die Gänge dennoch auf. Die Fürstengruft hat zwei Seitentrakte, vom verborgenen Wehrgang zweigen auf jeder Seite zwei weitere Gänge ab. Durchgängig gemauert, allem Anschein nach, einige Treppenstufen tiefer, als Sackgassen. Markus Jung und René Hebel haben keine rechte Erklärung, welchen Zweck sie einst erfüllten. Zur Belüftung? Symbolisch oder spirituell, dass jemand auch im Tode über die Fürstenfamilie wacht? Waren sie bautechnisch nötig, um den darüberliegenden Versammlungssaal oder die Hallengewölbe der Neben-Gruften zu stützen? Aber warum dann niedrige Gewölbegänge freilassen statt massiv zu mauern?
In den Siegener Unterwelten Markus Jung
Selbst der Wehrgang ist als solcher eigentlich zu niedrig, um sich gegen einen etwaigen Angriff effektiv zu verteidigen – aber der bekam vermutlich eine Decke, als die Fürstengruft ins wachsende Schloss integriert wurde.
Zu entdecken hat Markus Jung im Unteren Schloss jedenfalls noch genug.
Ein kurzer Abriss der Geschichte des Unteren Schlosses in Siegen
Für einen Vortrag im Rahmen der Reihe „Forum Siegen“ hat sich der Kunsthistoriker Prof. Joseph Imorde von der Uni Siegen eingehend mit der Baugeschichte des Unteren Schlosses beschäftigt – das immer schon auch ein Ort der Bildung war.
Seit dem 15. Jahrhundert existierte auf dem unteren Siegberg ein Franziskanerkloster, das im Zuge der Reformation aufgelöst wurde. Der Ort wurde erstmals Schule: Graf Johann VI der Ältere von Nassau-Dillenburg siedelte hier vorübergehend die calvinistisch-reformierte „Hohe Schule“ an. Als sich das Haus Siegen-Nassau in eine katholische und eine protestantische Linie aufspaltete, wurde die Anlage Residenz der protestantischen Linie („Nassauer Hof“).
Auch interessant
Fürst Johann Moritz von Nassau-Siegen und seine Nachfolger konzipierten und bauten das Untere Schloss ab dem 17. Jahrhundert mit entsprechend repräsentativen Funktionen, gewissermaßen als frühneuzeitlicher Gegenentwurf zur mittelalterlichen Burg oben auf dem Siegberg. Die Spannungen zwischen katholischer und protestantischer Linie prägten Aussehen und Baugeschichte, das Untere Schloss sollte als Drei-Flügel-Anlage das Obere Schloss in den Schatten stellen. Zentral war die zunächst alleinstehende Fürstengruft.
Die Siegener Freimaurerloge traf sich im Unteren Schloss
Nicht nur den katholischen Vettern oben auf dem Siegberg, auch der Stadt Siegen wollten die protestantischen Nassauer zeigen, wer der Herr in Siegen war. Inmitten der dichtbebauten engen Siegener Oberstadt ließen sie ein weitläufiges Areal um einen großzügigen Platz errichten, als „Zierde und Feste der Stadt“ (Imorde) – und auch um sich von ihr abzugrenzen.
Auch interessant
1695 wurde die Anlage zu weiten Teilen beim großen Stadtbrand zerstört, der Wiederaufbau schuf die Anlage mit drei Flügeln, die Fürstengruft wurde sozusagen mit eingebaut. 1922 rekonstruierte Wilhelm Scheiner das Aussehen des Unteren Schlosses im Jahre 1720 – wohl historisch nicht ganz korrekt – und weil nun das Schloss in seiner heutigen Form erstmals zu erkennen ist, gilt dies als seine Geburtsstunde.
1722 endete die protestantische Linie Nassau-Siegen, das Untere Schloss diente zunächst noch als Witwensitz, ab 1782 auch als Behördengebäude. Nach dem Ende der französischen Herrschaft 1814 sollte das „Pädagogium“ einziehen, aber bevor das vollzogen werden konnte, nahm der Staat Preußen das Untere Schloss in Beschlag. 1816 zog das Bergamt ein, 1818 die königliche Bergschule, 1820 die Post. Gleichzeitig traf sich hier die Siegener Freimaurerloge, der Landrat hatte eine Wohnung, der Musikverein probte und in der Kapelle über der Früstengruft fanden Bälle statt. 1864 zogen Amts- und Landgericht ein, bis 1976.
Schlossplatz Siegen war bis 1915 ein grüner Schlosspark
Bis 1915 war der Schlossplatz ein Schlosspark mit Wiesen und Baumgruppen, ein „urbanes Idyll“ (Imorde) – im deutlichen Kontrast zum heutigen, sehr kargen Erscheinungsbild. 1915 kam es zu einem Zimmerbrand ohne größere Schäden, der aber wohl nicht richtig gelöscht wurde – in der folgenden Nacht ging das ganze Dach in Flammen auf. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde es renoviert und bei der Gelegenheit eine Etage auf den Hauptflügel aufgesetzt.
Zum Ensemble gehörten bis zum Zweiten Weltkrieg zudem der Marsstall, der 1820 an die Stadt Siegen ging, und ein Ballhaus, ungefähr an der Stelle des heutigen Karstadt-Gebäudes. Sie wurden nach der Bombardierung 1944 nicht wieder aufgebaut.
Mehr Nachrichten, Fotos und Videos aus dem Siegerland gibt es hier.
Die Lokalredaktion Siegen ist auch bei Facebook.