Siegen. Lockdown und kein Ende in Sicht? Jetzt folgt der Schwenk vom dauerhaften Schließen zu „kontrollierter Sicherheit“. Zwei Experten über die Folgen:

Die kritischen Stimmen werden mehr: Während andere Länder beim Impfen vorpreschen, mitunter „nationale Kraftakte“ ausrufen, um die Corona-Pandemie in den Griff zu bekommen, Teststrategien entwickeln und digitale Lösungen mit weicheren Lockdowns zu einer Gesamtstrategie kombinieren, setze Deutschland bisher zu einseitig auf Lockdown. Und blicke zu wenig auf gesellschaftliche und finanzielle Kosten und Konsequenzen.

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Die Regierung könnte der Bevölkerung mehr vertrauen und durch gute Konzepte Kontakte vermeiden statt mit Verboten zu agieren, sagt Prof. Claus Wendt. Der Soziologe forscht an der Universität Siegen am Lehrstuhl „Soziologie der Gesundheit und des Gesundheitssystems“.

Akzeptanz für Corona-Maßnahmen in der Bevölkerung messbar gesunken

Es gebe noch vergleichsweise wenig Studien, aber es deute sich an, dass die Akzeptanz sinke, sagt Wendt. Auch wenn die Bevölkerung dem Staat das Vertrauen längst noch nicht entzogen habe: Anhand der Umfragen sei eine Entwicklung messbar. Der Verweis auf Virusmutationen sei zur Begründung nicht mehr ausreichend, um der Bevölkerung die Einschränkungen zu vermitteln und für Akzeptanz zu sorgen, so der Soziologe. Zunehmend kritisieren auch Wissenschaftler wie Christian Drosten eine Überbürokratisierung etwa bei den Impfzentren. Lange habe sich die Bundesregierung von Medizinern und Virologen beraten lassen, so Wendet, weniger von Wissenschaftlern, die bestimmte „Problemgruppen“ in der Bevölkerung im Auge haben.

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Die bisherige Strategie: Eher ein Reagieren auf aktuelle Entwicklungen als langfristiger „Schlachtplan“, etwa wenn es um Konzepte und Infrastruktur für die Wiedereröffnung von Schulen geht. Das sieht auch Dr. Martin Junker so. Der Leiter der für Siegen-Wittgenstein, Olpe und den Märkischen Kreis zuständigen Bezirksstelle der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) kritisiert dass zu lange zu wenig getan wurde, während auf Basis von Analysen und Erfahrungen aus heftigen Grippewellen etwa längst hätte klar sein müssen, was mit dem Coronavirus droht.

Der Bevölkerung Vertrauen entgegenbringen statt ankündigen und verunsichern

Nach Monaten der Pandemie sei in vielen Maßnahmen Perspektivlosigkeit, Ideenlosigkeit, Ziellosigkeit erkennbar, „was hat man eigentlich in diesen Monaten gemacht, außer zu warten?“, fragt Junker, der Hausarzt, Betriebs- und Umweltmediziner ist. Auch er fordert ein Umdenken über die „bisherige, starre Vorgehensweise“.

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Prof. Wendt wirbt dafür, dass die Regierung der Bevölkerung ein Stück weit Vertrauen entgegenbringt, Interaktion statt Vorgaben und Kontrollen. Das sei auch in der politischen Kultur Deutschlands begründet. Aus Sicht Dr. Junkers haben Ankündigungen – Lockerungen zu Weihnachten, Schnelltests für die breite Masse – eher zur Verunsicherung beigetragen.

Konsequenzen der Corona-Maßnahmen für Bildungssektor: Jahrzehnte spürbar

Soziales: Nach Monaten des Lockdowns, sieht Prof. Wendt bestimmte gesellschaftliche Gruppen an einem Punkt, an der sie die Situation kaum noch bewältigen könnten – Familien, Kinder, Arme. Nicht nur finanziell, etwa bei der Betreuung kämen immer mehr Menschen an Grenzen. „Sie sind den Lockdown nicht leid, sie sind nicht Corona-müde, es gibt direkte Auswirkungen“, so Wendt.

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Bildung: Man hätte deutlich mehr tun und frühzeitig digitale Konzepte entwickeln können, konstatiert Wendt. Auch in den zuständigen Ländern habe es keine systematischen Konzepte für Digitalunterricht über alle Schulformen und Altersgruppen hinweg gegeben. „Was passiert, geschieht durch Eigeninitiative – nicht, weil das Land etwas zur Verfügung stellt“, so der Soziologe. Wünschenswert wäre etwa die Bündelung aller Kräfte gewesen. „Eigeninitiative reicht nicht.“ Denn der Bildungssektor drohe, ins Hintertreffen zu geraten. Dass hier zu wenig passiert sei, ein Gesamtkonzept fehle, könne dazu führen, dass die Auswirkungen bis zu 30 Jahre lang spürbar sein könnten, schätzt der Soziologe.

Bewegung und Prävention im Lockdown zu wenig berücksichtigt

Gesundheit: Schwache Bildung und niedriges Einkommen stehen in einem Zusammenhang mit schwacher Gesundheit, so Claus Wendt. Auch bei Videosprechstunden, Ausstattung der Praxen, Kommunikation zwischen Ärzten und Pflegeeinrichtungen, Angehörigenkommunikation habe man Chancen verpasst, konstatiert der Professor. Die Bedeutung von Prävention sei in Deutschland lange nicht erkannt worden, erst in der jüngeren Vergangenheit habe hier ein Umdenken eingesetzt. „Der Blick für die hohe Bedeutung gesundheitsvorbeugender Maßnahmen fehlt“ – im Lockdown bewegen sich die Menschen weniger und nehmen an Gewicht zu. Weil sie kaum Sport treiben können. „Gesunde Ernährung und Bewegung sind wichtig für die Gesundheit“, betont der Hochschullehrer, selbst Trainer eines Sportvereins. Es habe früh Konzepte für kontaktloses Training gegeben – auch hier: „Das Vertrauen in die Akteure fehlt.“

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Depressionen und Vereinsamung seien die diskret verschwiegenen Corona-„Kollateralschäden“, heftiger womöglich als die direkten Folgen des Virus, kritisiert Dr. Martin Junker. Er wolle die Covid-19-Krankheit keineswegs verharmlosen, betont Junker, aber schon jetzt „können wir im Praxisalltag diese Kollateralschäden tagtäglich sehen.“

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