Eiserfeld. Als Junge beobachtet Karl Gisbert Vierbücher, wie ein Blindgänger nahe der Eiserfelder Walzenmühle niedergeht. Heute steht hier die Siegtalbrücke
Bombensicher war er, der große Silo der Eiserfelder Walzenmühle. Und deshalb auch für den knapp achtjährigen Karl Gisbert Vierbücher ein Fluchtort bei Fliegeralarm. Meldete das Radio „Nordpol-Richard-4“, dann war es allerhöchste Zeit, in Deckung zu gehen. Die alliierten Geschwader flogen vom Rheinland aus ins Siegerland und waren nach der eindringlichen Warnung sehr bald schon über der Sandhalde bei Niederschelden zu sehen. Ihr Kurs ging nach Nord-Ost, doch gewiss sein, dass nicht auch rund um den Eiserfelder Bahnhof eine Bombe abgeworfen würde, konnten die Menschen, die auf dem Gelände der Mühle lebten und arbeiteten, nicht.
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Mehr als 75 Jahre später erinnert sich der Junge von einst genau an einen der zuletzt zermürbenden Weltkriegstage, und dass er davon erzählt, hat einen guten Grund. Im Zuge der gegenwärtigen Baugrunderkundungen zum geplanten Neubau der Siegtalbrücke ist es dem heute 83-jährigen Karl Gisbert Vierbücher wichtig, von dem zu berichten, was er damals aus einer der Fensterluken im von dicken Mauern eingefassten Grundgeschoss beobachtet hat: Es könnte dort, wo künftig ein Pfeiler errichtet werden soll, durchaus noch ein Blindgänger liegen. Darauf hinzuweisen, ist für ihn eine Bürgerpflicht.
Vierbücher: Die Bombe verschwand einfach in der Wiese – ohne Explosion
Und so hat er, selbst als diplomierter Ingenieur sein Leben lang mit Großprojekten rund um den Globus befasst, Kontakt aufgenommen zur Autobahn GmbH, um seine Beobachtungen von einst zu Protokoll zu geben: Einfach in der Wiese verschwunden sei damals die Bombe, die er hat fallen sehen, das „starke Zischgeräusch“ noch im Ohr. Der Sprengkörper grub sich, schräg fallend, in den Boden, eine Zündung blieb aus. „Wuff, weg war sie – ohne zu explodieren.“
Ziemlich exakt, so Vierbücher, könne er den Eindringpunkt heute noch bestimmen – er hat Karten, Skizzen, Fotografien zur Hand, dazu eine detaillierte Vorstellungskraft. Bei der Vor-Ort-Recherche „sieht“ er die lange Mauer, die das Gelände des Omnibusbetriebs Steib von dem der Walzenmühle trennt, er kann nachvollziehen, wo damals Weg und Bahngleise liefen, wo der Mühlengraben sein Wasser vom Abzweig „Löser“ bis zur Mühle und dort wieder in die Sieg führte.
Der Kletterbaum der Kindheit steht noch – Walzenmühle ist Geschichte
Einziger Orientierungspunkt rund um die Brache unter der Brücke ist ein uralter Baum, der nicht allzuweit von einem der himmelhohen Pfeiler in der hinterletzten Ecke eines Industriegeländes immer noch wurzelt. „Die Linde!“ Den Kletterbaum seiner Kindheit auf diesem trostlosen Areal wiederzufinden, das bewegt Karl Gisbert Vierbücher für einen Moment enorm. Er lässt sich nicht schrecken von Schutt und Gestrüpp, will diesem Zeugen auch seiner Vergangenheit für einen Moment jedenfalls nahe sein. Und entdeckt beim Blick zum Ufer der Sieg tatsächlich dann auch noch den einstigen Abfluss des Mühlengrabens.
Sechs Jahrzehnte ist es nun her, dass die Vierbüchers die Walzenmühle aufgeben mussten. Vater Karl baute am Trupbacher Buberg neu, ins frühere Wohnhaus zog zunächst das Brückenbauleitungsbüro. Die Mühle wurde zeitweise zur Hühnerfarm. Dreieinhalbtausend Hühner, freilaufend auf vier Etagen. „Die legten jeden Tag ein Ei.“ Im Silo lagerten nun russisches Getreide, australischer Weizen; die Walzenmühle war, mit Sitz im Bahnhof von Kaan, eine Handelsgesellschaft geworden. Als es dann darum ging, tatsächlich die Siegtalbrücke zu bauen, wurde der Silo gesprengt, das Mühlengebäude und auch das einstige Zuhause der Familie zurückgebaut. Eine lange Geschichte (mit Anfängen im 17. Jahrhundert) ging zu Ende – und wird aktuell dann doch noch einmal fortgesetzt.
Denn die Planer von heute sind durchaus dankbar für Vierbüchers Hinweise. Im Netpher Büro der westfälischen Niederlassung der Autobahn GmbH hat er die Position des möglichen Blindgängers auf einer Karte verzeichnen lassen können. Es dürfe nicht ausgeschlossen werden, dass im Grund der Parzelle 245 der einstigen Walzenmühle tatsächlich eine Bombe liege, so Teamleiterin Katharina Erbismann. „Wir müssen zunächst vom Schlimmsten ausgehen.“
Auch der Himmel über Siegen brannte rot nach der Bombardierung
Die von der Bezirksregierung Arnsberg zur Verfügung gestellten Luftbildaufnahmen verzeichneten lediglich eine größere Fläche des einstigen Bombardements: „vom nördlichen Widerlager bis zum Ende des Wohngebiets auf südlicher Seite“. Gegraben nach der von Vierbücher vermuteten Bombe werde freilich jetzt nicht, überprüft werde der Baugrund nur dort, „wo wir baulich tätig werden“. In jedem Fall habe die Information ihren Wert, werde schriftlich vermerkt, weitergegeben auch an das Ordnungsamt der Stadt Siegen und von dort wiederum an die Bezirksregierung.
So wie sich Karl Gisbert Vierbücher an die Beobachtung aus der Silo-Luke erinnert, entsinnt er sich auch an den Abend des 16. Dezember 1944. Nach der Bombardierung Siegens „war der ganze Himmel rot“. Und neben ihm rieb sich der französische Kriegsgefangene Jean die Hände. Sein „Siegen kapuuut“ hat er noch im Ohr. Es ist, als wäre das Gestern ganz nah. Der 83-Jährige kämpft ein paar Augenblicke lang gegen die Rührung an, sagt dann: „Ich will nie mehr eine Stadt brennen sehen.“
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