Siegen. Das 25. Jahrbuch aus der Siegener Geschichtswerkstatt ist da. Es gibt unter anderem Einblicke in den Umgang mit der spanischen Grippe in Siegen.
Das 25. Jahrbuch aus der Siegener Geschichtswerkstatt ist da. Keine Jubiläums-Festausgabe, auch die hat Corona vereitelt. Aber auch wieder ein Band, der dem Anspruch von damals genügt, an den Bernd D. Plaum, Ludwig Burwitz und Christian Brachthäuser in ihrem Vorwort erinnern: „Einen innovativen Blick auf die heimische Geschichte richten und gängige und liebgewonnene Bilder, um nicht zu sagen Klischees, durch neue Perspektiven zu bereichern.“
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Damals Ende der 1990er Jahre, war das sogar noch ein Ausdruck von Opposition: Die immer noch traditionelle Heimatgeschichte tat sich schwer, Ansätze aufzugreifen, wie sie an der Universität in Siegen entwickelt wurden, sich für Alltags- und Sozialgeschichte zu interessieren, die NS-Diktatur so konkret wie möglich auszuleuchten. Kein Wunder, dass die Bibliographie zu Personen, Daten und Literatur als einer von elf Sonderbänden des Jahrbuchs erschien. Heute gelten die Autoren rund um Geschichtswerkstatt-Motor Dr. Bernd D. Plaum nicht mehr als Rebellen - ihre Art, an die Themen heranzugehen, ist zum Standard geworden.
Die Entwicklung der Siegener Stadtmauer
Im Stadterneuerungsprogramm „Rund um den Siegberg“ nimmt die Sanierung der 1305 erstmals erwähnten Stadtmauer auch finanziell einen großen Raum ein. Eigentlich zu spät – das legt der Beitrag von Jens Friedhoff nahe: Während andere Städte ihre Befestigungsanlagen in Parks und Gärten einbezogen, seien in Siegen „die bescheidenen Reste des einst größten Bauwerks der Stadt kaum noch wahrnehmbar“. Noch drei Türme – diese Bauwerke dienten auch als Gefängnisse - und ein paar Mauerabschnitte am Schloss, am Kölner Tor und beim ehemaligen Krankenhaus. Und dann die Mauer in der Hinterstraße, im 19. Jahrhundert von Bürgern geplündert, im 20. Jahrhundert in ein Parkhaus integriert. Jens Friedhoff dokumentiert den Verfall am Beispiel des Marburger Tor: 1829 befindet die Bezirksregierung, dass das Tor „baldigst abgebrochen der doch wenigstens das Thor für alle Personen gesperrt werde“. Gebraucht wurde die Stadtbefestigung schon zu Napoleons Zeiten nicht mehr, die Bollwerke wurden lästig.
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1833 hob die preußische Bezirksregierung die „Thorsperre“ auf; seitdem ist der Zugang zur Stadt auch außerhalb der Tore gestattet. Die Mauer sei schuld an schlechter Luft und feuchte Straßen, hieß es weiter. Der Stadtrat widersprach: Oben auf dem Siegberg lägen alle Straßen höher als die Mauer, am Luftzug mangele es dort nicht. Die Mauer verfiel, nur an einzelnen Stellen wurde saniert. Häuser wurden an die Stelle der Mauerabschnitte gebaut – große Möglichkeiten zur Stadterweiterung eröffneten sich oben auf dem Berg nicht, im Gegenteil: Die Mauer sicherte den Hang und damit die darunter errichteten Gebäude. 1839 schließlich wurde nach dem Torgewölbe auch das Bollwerk des Marburger Tors abgerissen, 1852 errichtete ein Kaufmann auf der Ruine ein Haus mit Garten. 1853 wurde dann auch das Löhrtor abgebrochen. Der Abbruch des Marburger Tors, so das Resümee von Jens Friedhoff, war der Beginn einer „Zerstörung großer Teile der Siegener Stadtbefestigung über einen Zeitraum von mehr als acht Jahrzehnten bis 1893“. Mit seinem Aufsatz schließt sich ein Kreis: Auch im ersten Band der Siegener Beiträge ging es um die Stadtmauer: Damals konnte über die Ausgrabungen im Zuge der Karstadt-Tiefgarage berichtet werden – und die Wiederentdeckung des mittelalterlichen Kölner Tors.
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1829 wird den Behörden der Fall eines zur Schau gestellten, vermeintlichen Südseeinsulaners angezeigt, der „wie ein wildes Thier … in einem Kasten umhergeschleppt wurde.“ Auf Intervention der Bevölkerung wird der offensichtlich gegen seinen Willen gefangen gehaltene Jacob Cannaba freigesetzt und erhält durch Spenden die Möglichkeit, in seine Heimat zurückzukehren.
Vom Oberen Schloss über die Oranienstraße ins Krönchencenter: Den wechselhaften Verlauf der Geschichte der Brüder-Busch-Gedenkstätte in Siegen skizziert Jürgen Schaarwächter vom Karlsruher Max-Reger-Institut, das das Archiv der aufgelösten Hilchenbacher Brüder-Busch-Gesellschaft übernommen hat.
„1968 in Siegen“: Harrie Müller-Rothgenger und Ulrich Kill, damals Schüler des städtischen Jungengymnasiums (am Löhrtor) erinnern sich an ihre Jugendzeit.
Aufstieg und Niedergang der Blechwarenfabrik Schmidt und Melmer
1870 wird im Weidenauer Schneppenkauten die Blechwarenfabrik Schmidt & Melmer gegründet. Matthias Schmidt, Urenkel des Firmengründers Thomas Carl Schmidt, hat die Unterlagen aus dem Nachlass gesichtet und berichtet über den Aufstieg und Niedergang des Unternehmens. Verzinkte Ascheneimer wurden das entscheidende Produkt. „Blitzeimer“ werden sie in der Preisliste von 1904 wegen ihrer Schließvorrichtung genannt: „Weil beim Entleeren in den Abfuhrwagen ein Verstoßen des Eimers wie des Deckels nicht mehr vorkommen kann.“ Und: Wenn der Eimer umfällt, fällt nichts mehr heraus, in dem Hunde stöbern könnten. Damals funktionierte die Müllabfuhr noch nach dem „Wechseltonnensystem“: Die volle Tonne wurde auf den Müllwagen aufgeladen und mitgenommen, eine leere Tonne beim Kunden zurückgelassen.
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Schmidt und Melmer, die 1911 auch die „Auskunftsstelle für Müllbeseitigung“ gründeten, entwickelten die Mülltonnen für das modernere Umleersystem: Die Tonne wurde in den Abfuhrwagen entleert und blieb an Ort und Stelle. Der Deckel war so konstruiert, dass er den Inhalt der Tonne erst nach dem Kippen freigab. 1929 bekam die Weidenauer Firma das Patent für diese „Vorrichtung zur staubfreien Entleerung von Müllgefäßen in Müllwagen“. Schmidt und Melmer waren in ganz Deutschland und darüber hinaus gefragt, in Kredenbach wurde 1963 sogar ein Zweigwerk eröffnet. Zu diesem Zeitpunkt war der Niedergang allerdings schon besiegelt. Heizöl ersetzte die Briketts, man brauchte keine Ascheneimer mehr. Für den Hausmüll reichten Kunststoffgefäße, wie sie die Gebrüder Otto in Kreuztal herzustellen begannen. Schmidt und Melmer verpassten den Umstieg, berichtet Matthias Schmidt, die dünne Finanzdecke hätte aber wohl auch für die Umstellung nicht ausgereicht. 1969 war Schluss.
669 Personen starben in Siegen an der Spanischen Grippe
Bernd D. Plaum hat sich angesehen, wie 1918, im letzten Kriegsjahr, über die zuerst in Kansas/USA aufgetretene Krankheit berichtet wurde: „Nicht oder nur wenig, und wenn doch, dann in einem verharmlosenden und beschwichtigenden Grundton.“ In Siegen erfuhren Zeitungsleser im November aus einer internen Mitteilung des Verlags, dass Inhalt und Vertrieb wegen der Grippe erschwert seien. „Der Leser machte sich nur angesichts der großen Zahl von Todesanzeigen und des häufigeren Läutens der Totenglocken seinen eigenen Reim darauf.“ 474 Menschen starben 1918 im Kreis Siegen an der Grippe; die Tuberkulose war nicht länger die häufigste Todesursache. Insgesamt starben von 1918 bis 1920 im Kreisgebiet 669 Personen. Der erste Fall trat am 1. Juli bei einem italienischen Kriegsgefangenen in der Charlottenhütte in Kreuztal auf. Vor allem das Siegener Stadtgebiet wurde im Herbst von der zweiten Welle getroffen, vor allem junge Menschen starben. Bis zu 40 Prozent der Schulkinder sollen erkrankt gewesen sein. Eine dritte Welle folgte im Frühjahr 1919.
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Der Kreisarzt empfiehlt das Händewaschen und die Vermeidung des Kontakts mit Infizierten. „Man denke auch dran, dass in der frischen Luft sozusagen keine Infektionsstoffe vorhanden sind, vergesse deshalb nicht, sich regelmäßig außerhalb des Hauses zu bewegen.“ Bernd D. Plaum: „Weitergehende Eingriffe in das öffentliche Leben wurden nicht thematisiert und offenbar auch nicht angewandt.“
Das neue Jahrbuch ist zum Preis von 15 Euro gibt es im Buchhandel und direkt bei der Geschichtswerkstatt: info@geschichtswerkstatt-siegen.de .
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