Siegen. Die Zukunft des stationären Einzelhandels nach der Pandemie wird von Unwägbarkeiten bestimmt. Es gibt verschiedene Szenarien, wie es weitergeht.

Dass sich der stationäre Einzelhandel und mit ihm die Innenstädte verändern werden, bahnt sich schon seit Längerem an. Die Corona-Krise könnte die Entwicklung aber so massiv beschleunigen, dass sich die Frage nach aktiver Gestaltung des Prozesses viel schneller stellt als angenommen. Prognosen sind schwierig, sagt Prof. Hanna Schramm-Klein, Inhaberin des Lehrstuhls für Marketing an der Universität Siegen und auf das Thema Handel spezialisiert.

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„Es ist für viele von uns so normal geworden, online einzukaufen.“ Die Corona-Krise mit geschlossenen Läden und sonstigen Einschränkungen habe den Online-Einkauf noch selbstverständlicher werden lassen, als er es ohnehin schon war. „Durch den Lockdown geraten vor allem individuelle Fachgeschäfte unter Druck“, sagt die Wirtschaftswissenschaftlerin. Viele dieser Läden hätten kein Onlineangebot, „das kann man auch gar nicht erwarten“, da ein eigener Online-Shop mit viel Aufwand verbunden ist. Viel gefährlicher sei, „dass viele online völlig unsichtbar sind“: Im Internet findet sich nicht einmal ein Hinweis darauf, dass es sie gibt und was sie bieten.

Die besten Chancen haben auch in Siegen Geschäfte mit individuellem Sortiment

Gerade aktuell „beginnt die Recherche für die meisten online. Das ,Ich gehe in die Stadt und gucke mal, was es so gibt’ entfällt“, sagt Hanna Schramm-Klein. Kundinnen und Kunden gehen derzeit oft von einem Bedarf aus und schauen dann, wo sie das Passende finden. Dieses Verhaltensmuster könnte durchaus dauerhaft erhalten bleiben und die Lage insbesondere für stationäre Läden mit „hochstandardisierten Produkten, die vergleichbar sind“, verschärfen. Unterhaltungselektronik etwa, teilweise auch Marken-Mode fallen darunter, weil es das identische Produkt an zig Stellen gibt – eben auch online. „Das Internet hat eine Wahnsinnsattraktivität: Die Hürde ist null, aber Sie haben extrem hohen Zugriff auf Alles.“ Wenn ein Einzelhandelsgeschäft „nur sehr standardisierte Produkte anbietet, wird es schwierig“.

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Entsprechend „leben im individuellen Handel die Unternehmen gut, die Sortimente gezielt zusammenstellen und Inspiration bieten“, erklärt Hanna Schramm-Klein. Der Verkäufer übernimmt für seine Kundinnen und Kunden eine Vorauswahl aus dem riesigen Gesamtangebot. „Dadurch entsteht ein Sortiment, dass den Laden von anderen unterscheidet.“ Dies sei „klassischer Handel“, betont die Expertin. „Aber das kostet seinen Preis.“

Einerseits ist es zeitintensiv, weil der Einzelhändler sich einen breiten Überblick über Waren verschaffen und wohlüberlegt aussuchen muss, schließlich geht es dabei auch um Profilbildung; die Kundschaft muss eine Vorstellung entwickeln, was sie im Laden erwartet – denn diese Erwartung lässt sie hingehen. Andererseits „muss ich es online so präsentieren, dass es wie im Laden rüberkommt. Das kostet Zeit und Geld.“ Ein drittes Problem: Kunden, die einen spezifischen Bedarf haben, werden im Internet nur schwer auf solche Shops stoßen. Dennoch sei dieses Konzept „in letzter Zeit wieder aufgelebt“, sagt die Professorin. Und es habe auch für die Zukunft Aussichten.

Einzelhandel nach dem Lockdown: Drei Szenarien, wie es in Siegen weitergehen könnte

Mit Prognosen „tue ich mich schwer“, sagt die Expertin. Derzeit sei sehr schwer einzuschätzen, was Verbraucher als ,normal’ und dauerhaft attraktiv empfinden. Drei wesentliche Szenarien seien denkbar:

Die Rückkehr zum Stand vor der Pandemie;

Ein Nachholbedürfnis, das die Menschen nach Ende des Lockdowns verstärkt in die Innenstädte zieht. „Da rechne ich allerdings nicht mit“, sagt Hanna Schramm-Klein. Bei vielen Leuten könnte die Angst vor größeren Menschenansammlungen, geringen Abständen und in Folge einer Ansteckung mit Corona bremsend wirken. „Ich denke, die große Euphorie kommt nicht.“

Der Boom des Onlinehandels geht weiter.

Klicken statt anrufen

Einzelhändler würden mitunter die faktische Attraktivität von telefonischem Service überschätzen.

Anrufen zu müssen, um etwas zur Abholung bereitlegen zulassen, sei für Teile der Kundschaft bereits eine Hürde, die sie auf Online-Angebote ausweichen lässt, sagt Prof. Hanna Schramm-Klein. „Das ist vielen Händlern gar nicht bewusst.“

Besonders schwierig zu prognostizieren sei, wie viele Geschäfte während Krise und Lockdowns in die Knie gehen werden. Klar sei, dass viele Händler ihre Läden werden aufgeben müssen, sagt die Wissenschaftlerin. Klar sei aber auch, dass viele Menschen nach der Krise einen Neuanfang machen müssten, weil auch andere Branchen unter der Krise leiden – und Einzelhandel sei bei Gründerinnen und Gründern sehr beliebt.

Gastronomie spielt für den Einzelhandelsstandort Siegen eine große Rolle

Für die Frage nach der Zukunft der Innenstädte als Einzelhandelsstandorte spielt auch die Gastronomie eine wichtige Rolle, weil diese für viele Menschen beim Shopping-Erlebnis, aber auch für die Innenstadt an sich dazugehört. „Man braucht die Mischung“, unterstreicht Hanna Schramm-Klein. Das erfordere, „dass Einzelhandel und Gastronomie zusammenarbeiten. Was es nicht oft gibt.“

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Der Mix ist auch in anderer Hinsicht entscheidend. Innenstädte müsse man heutzutage „wie ein Centermanager planen“, sagt Hanna Schramm-Klein. Gebe es zu viele Filialisten und Ketten, fehle den Kunden die Individualität des Einkaufsstandorts. Gebe es zu wenige und seien bestimmte Marken nicht vertreten, fehle aber auch etwas. Das richtige Verhältnis von Ketten zu individuellen Händlern sei entscheidend, ebenso das Gesamtambiente: „Die Leute wollen ein Erlebnis haben.“

Atmosphäre schaffen, Gründer unterstützen

Kommunen müssten deshalb in das Umfeld investieren – was in Siegen mit den Großprojekten der vergangenen und kommenden Jahre umfangreich geschieht. Zur Atmosphäre trage – über die reine Belebung dank tausender Studierender und Uni-Mitarbeiter – auch der Umzug zweier weiterer Fakultäten in die Innenstadt bei, „weil das schon einen großen Leerstand füllt“. Hanna Schramm-Klein könnte sich auch vorstellen, dass öffentliche Förderprogramme dem Einzelhandel nach der Krise weiterhelfen – auch den Leuten, die in diesem Bereich als Gründer neue Wege gehen möchten.

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