Deuz. Deuzer Geschichte: In Baracken aus Dreis-Tiefenbach leben Menschen gegen ihren Willen: Arbeitsmänner roden den Wald, Gefangene fertigen Granaten.

Die Überschrift liest sich unspektakulär: „Vom Reichsarbeitsdienst zum Kriegsgefangenenlager in Deuz mit dem dort internierten Komponisten Paul Chenevier“. Auch im Vorwort lässt Wilfried Lerchstein nur anklingen, welchen Bogen er in seinem langen Aufsatz in der neuen Ausgabe von „Siegerland“, der Zeitschrift des Siegerländer Heimat- und Geschichtsvereins, schlagen wird: „Wie mit einem Brennglas“, schreibt er dort, lasse sich die Veränderung der Lebensverhältnisse vor dem und im Dritten Reich in Deuz beschreiben – am Beispiel von Menschen, „die sich ihren Aufenthaltsort Deuz nicht freiwillig ausgesucht haben“. Wilfried Lerchstein hatte das Glück, auf die Chronik des Deuzer Arbeitsdienstlagers gestoßen zu sein – und auf die Erinnerungen eines Kriegsgefangenen, der bei Walzen Irle Zwangsarbeit leistete.

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Anneliese Wunderlich hat Wilfried Lerchstein die Chronik der Reichsarbeitsdienstabteilung Eresburg lesen lassen. Die Eresburg stand zur Zeit Karls des Großen in Marsberg, sie war Namensgeberin für die Abteilung 6/208 in Bredelar, die 1937 zur Abteilung 9/209 wurde und nach Deuz umzog. Anneliese Wunderlichs Vater war Wilhelm Knop, Heimatdichter, Amateur-Archäologe, Gründungsvorsitzender des Heimatvereins Netpherland. Wilhelm Knop entdeckte die Chronik, als er nach dem Krieg in eine der Deuzer Arbeitsdienstbaracken einzog, dort wohnte und auch eine Schreinerei einrichtete. Bevor er Soldat wurde, war er „Abteilungsführer“ in dem Deuzer Lager.

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Arbeitsdienst

Aus dem freiwilligen Arbeitsdienst, einer Art Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, hatten die Nazis den verpflichtenden Reichsarbeitsdienst („RAD“) gemacht, in dem junge Männer für ein halbes Jahr kaserniert wurden, bevor sie zur Wehrmacht eingezogen wurden. Das Deuzer Lager wurde im Wald zwischen Netphen und Deuz „Auf den Weiden“ in der Wüste Beienbach errichtet, etwa gegenüber dem heutigen Industriegebiet Weiherdamm. Die Baracken kamen aus Dreis-Tiefenbach. Die Firma W. & E. Berg lieferte die standardisierten Holzbauten deutschlandweit, für den RAD, später auch für Zwangsarbeiterlager, nachdem Krieg für Behelfsheime. 1952 ging die Firma in Konkurs; eine ihrer Baracken wird derzeit im Freilichtmuseum Lindlar neu aufgebaut.

Jedes halbe Jahr – im Bild: Sommer 1938 –  kommen neue „Arbeitsleute“ nach Deuz. Je näher der Krieg rückt, desto militärischer wird ihr Tagesablauf. 
Jedes halbe Jahr – im Bild: Sommer 1938 – kommen neue „Arbeitsleute“ nach Deuz. Je näher der Krieg rückt, desto militärischer wird ihr Tagesablauf.  © Sammlung Anneliese Wunderlich

200 „Arbeitsmänner“ – so der Nazi-Sprachgebrauch – rodeten Hauberg zu Weideland, forsteten den Kreuzberg auf, bauten Wege in Grissenbach und den Sportplatz in Deuz. Sie halfen bei der Ernte, suchten Kartoffelkäfer – und bereiteten sich auf den Krieg vor, spätestens ab 1938, als Deutschland das zur Tschechoslowakei gehörende Sudetenland besetzte. Die Männer mussten fürs Winterhilfswerk sammeln und die Kulisse für eine Ausstellung „Westfälische Künstler bei unseren Arbeitsmännern“ abgeben: „Zum Sinnbild der kulturellen Gesundung und Erneuerung“, wie der Kreisschulrat zitiert wird, gegen die Kunst der „Entartung und Verzerrung als Folge eines an Leib und Seele krank gewordenen Volkes“. Nach Kriegsbeginn wurde aus dem Lager der Abteilung Eresburg das Lager 8/94 des weiblichen Arbeitsdienstes. Bis zu 100 „Arbeitsmaiden“ halfen auf Bauernhöfen und in kinderreichen Familien, bevor sie ab 1940 zum Kriegseinsatz geholt wurden, als Schaffnerinnen bei der Bahn, in Lazaretten und in Betrieben, deren männliche Belegschaften zur Wehrmacht geholt worden waren.

Zwangsarbeit

1942 wurden wieder Baracken in Dreis-Tiefenbach bestellt. Oberhalb der heutigen Waldstraße und dem Werk 1 von Walzen Irle wird heute Fußball gespielt. 1938 stellte die Gemeinde das Gelände dem RAD als Exerzierplatz zur Verfügung, aufgebaut wurde hier das Lager zunächst für französische Kriegsgefangene, dann auch für aus Polen und Russland verschleppte „Ostarbeiter“. In seinem Aufsatz verbindet Wilfried Lerchstein die Forschung zur Zwangsarbeit im Siegerland – vor allem von Dr. Ulrich Opfermann – und zur Wirtschaftsgeschichte des Netpherlandes – zuletzt von Dr. Peter Vitt – mit den Erinnerungen, die Paul Chenevier in Frankreich veröffentlicht hat. Mit 19 Jahren war er 1940 in deutsche Gefangenschaft geraten, vier Jahre blieb er im Siegerland, bevor er am 1. April 1945 von der US Army krank nach Paris ausgeflogen wurde. Drei Jahre lang musste er bei Irle Granaten bauen. „Kohlebriketts, Waggons voller Schrott, Funkengestöber, Explosion von Sternchen, Hitze zum Vergehen oder Kälte zum Zerbrechen, was soll ich mit all diesen Übeln tun“, heißt es in dem von ihm vertonten „Marsch des Kommandos 1404“, „eine Brühe voller Fett, abscheuliche Bouillabaisse, Kartoffeln und Bohnen, Frikadellen und Maden…“

Beitrag zur Fißmer-Debatte

Die neue Ausgabe von „Siegerland“ kann über den Buchhandel und beim Siegerländer Heimat- und Geschichtsverein bezogen werden.

Weitere Beiträge des Hefts, die wir in einer unserer nächsten Ausgaben vorstellen, befassen sich mit zwei besonderen Biografien, mit dem Siegerländer Hauberg und den Plastiken im Geisweider Dr. Dudziak-Park.

Außerdem geht es um den ehemaligen Siegener Oberbürgermeister Alfred Fißmer, seine Rolle im Dritten Reich und in der Nachkriegszeit. Der Siegener Rat hat beschlossen, die nach ihm benannte Anlage nicht umzubenennen.

Nach dem Krieg

Die Idee, nach dem Abbruch der Stalag-Baracken den Platz mit Aushub und Gießereischlacke aufzufüllen, hat für die Fußballer des neuen Vereins Schwarz-Weiß Deuz schmerzhafte Folgen: Die Spiele, so hat Wilfried Lerchstein herausgefunden, waren „Schlammschlachten“, der schwefelhaltige Schlackensand verursachte schwer heilende Wunden. Die RAD-Lagerbaracken in der Wüste Beienbach werden nach dem Krieg von Flüchtlingen bewohnt, eine wird Vereinsheim des Schützenvereins.

Paul Chenevier bleibt Militärmusiker, leitet in seinem Heimatort Pontcharra bei Grenoble das Blasorchester, gründet eine eigene Musikschule. 1981 kommt er zu einem Besuch ins Siegerland. „An der Stelle, wo sich unser Kommando befand, ist heute ein Fußballplatz, aber meine Erinnerungen sind tief in meinem Gedächtnis eingegraben, und so kann ich auf diesem Fußballfeld die Stelle meiner Baracke, des Wasserbeckens, der beiden anderen Baracken, der Latrinen und des Wachlokals unserer Bewacher lokalisieren.“ Vom Stalag IX A geht es in die Schmelzerei: „Es hat sich nichts verändert, mein Laufkran existiert aber nicht mehr, und es gibt auch keine gegossenen Granatenhülsen mehr. Und ich befinde mich wieder an diesem Ort, atme denselben Staub, die Gase schmelzenden Metalls…“ Paul Chenevier wird 93 Jahre alt, er stirbt 2015.

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