Netphen. Auch Grundschulkinder dürfen nicht mehr zur Schule gehen: Szenen aus dem Distanzunterricht der 3 a an der Grundschule Niedernetphen.
8.02 Uhr. Elena Wagener geht online. Aufdem Bildschirm sind zwölf Kindergesichter, die erste Gruppe ihrer 3b. „Wir starten mit unserem Guten-Morgen-Rap.“ Die Lehrerin startet den Sprechgesang, der mit ein bisschen Gestik verbunden ist. „Ich hoffe, ihr seid fit für die Mathestunde.“ Sind sie. Spätestens jetzt.
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So geht es los
„Wir haben das vor Weihnachten schon mal geübt“, sagt Schulleiterin Annette Kramps, „dass wir das so schnell brauchen würden, hätten wir nicht gedacht.“ Auch die Grundschule in Niedernetphen ist so gut wie leer. Zwei Lehrerinnen machen Unterricht vor der Kamera in leeren Klassenräumen, alle anderen unterrichten von zu Hause aus. Schon, weil das Netz da oft besser ist. Und die Ausstattung auch: der Standrechner mit der Lernsoftware, das Tablet für die Videokonferenz – „damit man die Kinder auch gleichzeitig sieht“, sagt Konrektorin Kirsten Wüst. Und das Handy, um zwischendurch bei Schülermüttern intervenieren zu können. Man lernt schnell. Auf allen Seiten.
Videokonferenz: „Pia*, kannst du mal schauen, dass du dein Bild einschaltest?“ Die Mathematikstunde der Eichhörnchenklasse beginnt mit der Wiederholung der letzten Stunde. Subtrahieren ist angesagt. „Frau Wagener, ich sehe nichts“, meldet sich Lisa. „Ist Mama da?“, fragt die Lehrerin. Sie ist. Und jetzt geht’s los. Thema heute: das erweiterte Substrahieren. Das mit der Eins im Sinn.
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Das ist die Woche der 3a
Elena Wagener sieht ihre 3a montags, mittwochs und freitags, jeweils für eine Stunde Mathe und eine Stunde Deutsch. Außerdem, wenn gewünscht, in der Kindersprechstunde. Und dann noch an einem Nachmittag in der Woche, um ein Aufgabenpaket abzuholen – da werden Mappen und Hefte ausgetauscht, neue gegen erledigte Aufgaben. „Wir haben den Termin eingerichtet, damit die Kinder ihre Lehrerinnen wiedersehen können“, sagt Rektorin Annette Krams, „für die ist das ganz wichtig.“
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Videokonferenz:„ Auf dem Bildschirm ist eine Seite, die wie ein digitales Rechenheft aussieht. Ein paar Aufgaben stehen auf der Seite, in die leeren Felder können Ergebnisse eingetragen werden. Elena Wagener wechselt zwischen Teamansicht und Arbeitsblatt. 62 minus 28. „Von 8 bis 2 geht nicht, weil 8 größer als 2 ist.“ Schritt für Schritt bringt die Lehrerin ihrer Klasse den „Trick“ bei. Oben kommt eine 10 dazu, unten bei den Zehnern eine 1. „Das Ergebnis ist 34.“ Jörn meldet sich: „Frau Wagener, ich bin gerade rausgeflogen.“ Jasper drängelt: „Ich will endlich auch eine Aufgabe rechnen.“ 972 minus 203. Im Hintergrund souffliert jemand. Jasper wieder: „Von 0 bis 7 sind 6.“ Mattes schaltet sich ein: „Das versteh ich jetzt nicht.“
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Hier sind wirklich Kinder
Mattes ist nicht weit weg. In einem Klassenraum arbeitet ein halbes Dutzend Kinder an Standrechnern, begleitet von Astrid Weber, der Bundesfreiwilligen („Bufdine“) der Schule. Einige arbeiten an Aufgaben, einige sind mit Headset in den Videokonferenzen der dritten und vierten Klassen. In die Notbetreuung aufgenommen werden auch Kinder, die zu Hause kein ausreichendes Netz haben – oder keine Geräte. Die Ausstattung, die das Land bezahlt, ist nämlich noch nicht da. „Seit September bestellt“, berichtet Annette Kramps, die darin nicht das größte Problem sieht: „Das Einmaleins kann man aufschieben, Seelen kann man aber nicht reparieren.“ Die Lehrerinnen wissen um den Stress zu Hause – zu der zusätzlichen Belastung durch Homeschooling und Homeoffice kommt die Sorge, dass die Kinder nicht genug mitbekommen. „Manche Eltern sind am Rand ihrer Kräfte.“
Videokonferenz: „972 minus 203 gleich 769. Richtig? „Wenn man 3 und 2 rechnet, ist das doch 5“, wendet Johannes ein. Lehrerin Elena Wagener bleibt ganz cool: „Die Probe müssen wir mit dem Ergebnis machen.“ Johannes antwortet mit einem sehr langgezogenen „Okay“. Überzeugt sein klingt anders. Luisa ist mit 496 minus 357 dran. „Von 7 bis 16 sind 19.“ Und dann ist der Ton weg. „Ich gehe mal gerade raus und wieder rein“, kündigt die Lehrerin an. Und dann hört sie ihre Gruppe wieder. „Jetzt nehme ich auch die dran, die sich nicht melden.“ Jetzt läufts, Päckchen für Päckchen. Die Uhr läuft auf 8.40 Uhr zu, Elena Wagener will noch eine Aufgabe stellen. Pia protestiert: „Frau Wagener, wir haben noch eine Aufgabe vergessen.“
So fühlt sich das an
Elena Wagener ist stolz auf ihre Eichhörnchenklasse. „Die sind diszipliniert und motiviert.“ Rektorin Annette Kramps ist stolz auf ihr Team: „Das ist schon beim Zugucken anstrengend.“ Mittags, nach vier Videokonferenzstunden, sind alle gleich platt, die Kleinen und die Großen.
Videokonferenz:„ Auf Seite 10 und 11 stehen noch mehr Aufgaben. Elena Wagener erklärt detailliert. „Müssen wir das Ergebnis doppelt unterstreichen?“, fragt Jana nach. „Frau Wagener, ich seh nichts mehr“, protestiert Jens. Ina bremst: „Ich muss das Heft erst aus dem Schulranzen holen.“ Jens ist wieder da: „Ich habe die Seiten nicht gefunden.“ Elena Wagener: „Dann musst du die Nummern draufschreiben.“ Letzte Runde: „Johannes, du hast noch eine Frage?“ Johannes: „Habe ich mich gemeldet?“ Die digitale Hand war noch oben. „Oh.“ Und nun zum letzten Mal: „Wenn du die Aufgaben fertig hast, machst du eine Frühstückspause, und dann findest du uns bei Deutsch wieder.“
Und das kommt jetzt
8.46 Uhr. Die Eichhörnchengruppe 1 arbeitet nun an den Matheaufgaben weiter, bis um 10 Uhr ihre Deutschstunde beginnt. Da wird es um die wörtliche Rede gehen. Elena Wagener hat jetzt noch ein paar Minuten Zeit, bevor sie sich in die zweite Gruppe ihrer 3b aufschaltet. Sie wird wieder mit dem Guten-Morgen-Rap beginnen und dann ist das erweiterte Subtrahieren dran. Hazel und Nüsschen, die Klassentiere der Eichhörnchenklasse, schauen vom Tisch des fast leeren Lehrerzimmers aus zu. Sie sind aus Plüsch. Und haben keine Nerven.
* alle Kinder-Vornamen sind geändert