Siegen. Tatjana Ebener-Scharnbergs Tochter wird tot geboren. Die Trauer begleitet die Eltern ihr Leben lang – und die Mutter begleitet andere Trauernde.
Maja wurde am 6. September 1998 geboren, da war sie seit fünf Tagen tot. „Sie hat mich zur Mutter gemacht“, sagt Tatjana Ebener-Scharnberg. „Den eignen Tod, den stirbt man nur, doch mit dem Tod der anderen muss man leben“, heißt es in Mascha Kalekos Gedicht „Memento“. Das sagt alles. „Wir trauern um unser Kind“ steht auf den gelben Flyern des Gesprächskreises für verwaiste Eltern, den Ebener-Scharnberg zwei Jahre danach gründete und der vielen Eltern, die ein Kind verloren haben, seither Halt und Trost gegeben hat. Genauso der Trauergottesdienst, immer am Totensonntag.
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Es war lange nicht klar, ob Tatjana Ebener-Scharnberg Majas Geburt überleben würde. Ein paar Tage vor dem Termin war sie voller Vorfreude bei der Untersuchung und als sie den Gesichtsausdruck des Arztes und die weiße Linie auf dem Monitor sah, „bin ich direkt vom Himmel in die Hölle gefahren“, erzählt sie. Bis ins kleinste erinnert sie sich an alle Details dieser Tage, als sie irgendwie funktionierte; als dieses neue Leben begann, das nicht mehr bunt, sondern plötzlich pastellfarben war. Wie unsensibel der Chefarzt sie abtat und sie mit ihm aneinandergeriet, aber auch, wie der Oberarzt sie und ihren Mann in den Arm nahm. Wie eine andere Mutter ihr ihr Baby in den Arm legte, „ich war so selig“; wie der neue Chef ihres Mannes ihn zu seiner Frau schickte, um ihr beizustehen. „Ich könnte den heute noch knutschen.“ Mit dem Chefarzt versöhnte sie sich – „er hat mir das Leben gerettet und dafür gesorgt, dass ich weiter Kinder kriegen konnte“. Noch nie zuvor habe sich der Professor bei einer Patientin entschuldigt, habe eine Schwester gesagt.
Nach der Geburt der toten Tochter will die Klinik Geld – sie weigert sich
Raus aus der Station – die Klinik wollte Krankenhaustagegeld von ihr. „Ich bin doch Wöchnerin?“, sagte Ebener-Scharnberg. „Hat ihr Kind geschrien?“, fragte die Angestellte. Ebener-Scharnberg weigerte sich zu bezahlen. „Ey, hier ist eine, die will nicht zahlen“, habe die Frau kaugummikauend über die Schulter gerufen. „Ich sehe sie noch heute an Majas Todestag vor mir, wie ein Film, ob ich ihn gucken will oder nicht.“ Die Frau wollte die Versichertenkarte nicht rausrücken, den Ausgang nicht öffnen. Bezahlen sei halt vorgesehen. Ebener-Scharnberg setzte sich durch. Und schwor sich, alles dafür zu tun, dass so etwas anderen Eltern nie passiert. Als sie die Station verließ, kam ihr ein junges Elternpaar entgegen. Sie brach weinend zusammen.
Inmitten der riesigen Trauer: kleine Momente des Trostes. Majas Beerdigung war an einem bewölkten Tag. Als der kleine Sarg in die Erde gelassen wurde, neben Tatjana Ebener-Scharnbergs Vater, „der beste Papa“, fiel ein Sonnenstrahl auf den Sarg. „Spinne ich“, dachte sie. Bis ihr Mann sie drückte: „Siehst Du das auch?“ Die Kleine sollte bei ihrem guten Opa sein, wenn beide schon nicht mehr bei ihnen sein konnten. Der Gedanke, dass der Opa Maja bei sich aufnahm, gab den Eltern Trost. Den Tod hatte Ebener-Scharnberg früh kennengelernt. Als sie 11 war, starb ihr Opa, ein Jahr später ihr Vater, ein Freund mit 18 Jahren bei einem Unfall.
Dumme Sprüche kaum zu ertragen
Namen wurden bei Bekannten aus dem Geburtstagskalender gestrichen, nach dem Motto „Ist ja tot, müssen wir ja nicht mehr feiern.“ Bei jeder Fete war sie „die mit dem toten Kind. Ich habe auch einen Namen.“ Dumme Sprüche. Sie könne doch noch andere Kinder haben. Vielleicht gut gemeint. „Aber dieses Kind ist trotzdem tot.“ Und überall, wo sie hinging, traf sie andere Betroffene. „Jedes Mal saß ich mit einer weinenden Mutter in einer Ecke“, erzählt sie. Sie beschloss, eine Trauergruppe zu gründen, aber nicht allein.
Nicht nur Eltern trauern, auch Geschwister. Sie verlieren auch die Unbeschwertheit der Eltern, sagt Ebener-Scharnberg, die noch zwei gesunde Kinder hat. Das tote Kind nehme oft viel Raum ein – oder werde verschwiegen. Bei ihr zuhause wird an Majas Geburtstag eine Kerze entzündet – Majas Kerze. Geht die Familie essen, nehmen sie die Kerze mit ins Restaurant. Sie reden nicht ständig von ihr, aber Maja ist präsent.
Man muss akzeptieren: Jeder Mensch trauert anders
Ein Patentrezept fürs Trauern gibt es nicht. „Jeder trauert anders“, sagt Ebener-Scharnberg. Sie ist Erzieherin, hat eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin gemacht. Männer würden oft aktiv, fingen an zu bauen, Frauen schreiben oder malen. Sie kämpft für Akzeptanz: „Jeder hat das Recht auf unterschiedliche Trauer.“ Ihr Mann habe ihr anfangs immer eine Schulter zum Anlehnen gegeben, erzählt sie; sie fragte sich, ob er überhaupt trauerte. Bis sie ihn irgendwann weinend fand. „Er wollte für mich stark sein.“ Seither haben die Eheleute einen offenen Umgang über den Tod ihrer Tochter, den sie auch mit den Kindern pflegen. Der Tod ist immer irgendwie da – wie bei allen Menschen eigentlich. Bei Tatjana Ebener-Scharnberg zuhause wird nur offen darüber geredet. Als ihr Sohn 9 war, kündigte er während einer Fahrradtour an, dass er seine Organe spenden wolle, wenn er plötzlich sterbe.
So findet der Gottesdienst im Corona-Jahr statt
Der Gottesdienst mit Pfarrerin Dorothee Zabel-Dangendorf wurde bereits in der Siegener Martinikirche aufgezeichnet und wird am Totensonntag, 22. November, um 15 Uhr im Internet über die Homepage der Gemeinde übertragen. Eine tatsächliche Live-Übertragung hätte nicht den gewohnten geschützten Rahmen geboten.
Um zu der Übertragung zu gelangen entweder „Evangelische Martini-Kirchengemeinde Siegen“ in die Suchmaschine eingeben und den ersten Link anklicken oder direkt auf martini.kirchenkreis-siegen.de gehen. Dort den Link anklicken: „Hier gelangen Sie zum Livestream“, das Video öffnet sich dann.
Tatjana Ebener-Scharnberg bittet darum, dass Angehörige oder Freunde Menschen, die unsicher sind im Umgang mit dem Internet , dabei helfen, zu dem Video zu gelangen.
Rückfragen an die Organisatorin sind unter 0 2737/592179 möglich.
Raum und Zeit, um ihre toten Kinder lebendig werden zu lassen – dafür sollen die Gruppenabende einen geschützten Rahmen bieten. Die Eltern sollen sagen können, was die anderen nicht mehr hören wollen oder können. „Das Problem vieler Eltern: Ihr Kind ist tot – und stirbt ein zweites Mal, weil es verschwiegen wird.“ Freunde, auch Verwandte, trauen sich nicht, sie anzusprechen, aus Angst, „sie wollen die Eltern nicht dran erinnern.“ Das ist völlig falsch, sagt Ebener-Scharnberg: Man kann verwaiste Eltern nicht nicht an ihr Kind erinnern. „Wenn ihr Angst habt, wenn die Worte fehlen – einfach fragen: Darf ich mit Dir reden, darf ich Dich begleiten?“ Der Zuspruch sei viel tröstlicher für trauernde Eltern als sich zurückzuziehen.
Menschen kommen von weither zum Trauergottesdienst nach Siegen
Unmöglich fand es Tatjana Ebener-Scharnberg, dass totgeborene Kinder unter 500 Gramm bis 2003 als „klinischer Sondermüll“ vom Krankenhaus „entsorgt“ wurden – das sah das Gesetz vor. „Wo steht, dass man den Gesetzestext nicht ändern kann?“, sagte sie – und kämpfte mit anderen dafür, dass auch Totgeborene pietätvoll beigesetzt werden. Sie merkte: Man kann etwas bewirken. Dass es Eltern hilft, Grabstätten nach Empfinden auszuwählen. „Ich begleite seit 20 Jahren Eltern, Friedhofsvorschriften sind so doof“, sagt sie: Wenn eine Frau nach ihrem Mann auch noch ihr Kind beerdigen und sie an zwei verschiedenen Orten besuchen muss – „kann man da keine Ausnahme machen?“ Es gibt Vorschriften zur Höhe des Grabsteins, zur Symbolik – ein Fußball sei nicht christlich. Sollte sie dafür kämpfen, Trauer als Krankheit anerkennen zu lassen? Die Krankenkassen würden psychologische Begleitung dann anders bezahlen. „Aber bin ich krank, weil ich mein Kind verloren habe?“ Nein, findet Ebener-Scharnberg. Auch wenn ein Teil von ihr mit ihrer Tochter gestorben sei.
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Nicht nur aus dem Siegerland, weit darüber hinaus kommen jedes Jahr Menschen in die Martinikirche, um an ihre gestorbenen Kinder zu denken. Viele haben Tatjana Ebener-Scharnberg über die Gruppenabende kennengelernt, Pfarrerin Dorothee Zabel-Dangendorf schreibt alle Eltern an, die im vergangenen Jahr in der DRK-Kinderklinik ein Kind verloren haben. Es kommen Menschen, die sonst keinen Bezug zur Kirche haben oder auch Muslime. Ein Teelicht entzünden ist das feste Ritual: Die Trauernden schreiben den Namen des Kindes auf, entzünden das Licht und bringen es nach vorn. Alle Namen werden verlesen, an alle Kinder wird erinnert. Viele Stunden Arbeit investiert Ebener-Scharnberg in die Vorbereitung, arbeitet Themen aus, schreibt Einladungskarten, besorgt Deko, bis ins Detail aufgeladen mit Symbolik. Ein fester Raum, eine feste Zeit, bewusstes Erinnern.
Die feste Gruppe bietet den Trauernden einen geschützten Raum
Gruppenabende finden einmal im Monat statt, immer im Frühjahr und im Herbst bieten Tatjana Ebener-Scharnberg und ihre Kollegin Angela Werres (Hessen) einen geschlossenen Kurs an; acht Abende zu etwa zwei Stunden. Interessenten melden sich telefonisch, Ebener-Scharnberg spricht lange mit ihnen. Alle können kommen, egal wie sie ihr Kind verloren haben, ob im Mutterleib gestorben oder die 80-Jährige, deren 56-jähriger Sohn beim Motorradunfall umkam. Der erste Abend ist immer hart. Jeder erzählt, warum er da ist. Daher auch die geschlossene, geschützte Gruppe.
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Zu Anfang, als die Trauerabende noch offen waren, baten viele, keine neuen Mitglieder mehr aufzunehmen. Immer neue Schicksale, das belastete sie. Die festen Gruppen lernen sich kennen, sie trauern, vertrauen, und lachen auch. Tatjana Ebener-Scharnberg verlor ihre Tochter, wäre fast gestorben, hat es überlebt. Vielleicht auch für die vielen anderen, die sich nicht trauen, den Mund aufzumachen. Ihr Vater sagte immer: „Wenn Du was verändern willst, mach den Mund auf. Wenn du Gegenwind nicht vertragen kannst, lass es.“
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