Siegen. Lydia Marburger schreibt ihrem Sohn, der nun Kriegsgefangener ist: Mit 18 wird er Soldat, mit 28 sieht er seine Mutter in Siegen wieder.
Am 9. Mai 1945 hat sich Lydia Marburger in Kaan an die Schreibmaschine gesetzt. Der Krieg ist seit dem Vortag zu Ende. Ihren Brief richtet sie an den Sohn, der in Amerika in Kriegsgefangenschaft ist. Die Gedanken richten sich an die Eltern in Greiz: „Ob sie noch wohnen wie vordem? Ob sie noch leben? Wären doch endlich erst die Trümmer auf der Bahn gesäubert, damit uns der Zug wieder Post bringen kann.“
Lydia Marburger beschreibt die Maiensonne, die die Trümmer „wesentlich freundlicher“ aussehen lässt. Ehemann Fritz ist Hausmeister der Käner Schule, die „durch ein Wunder“ stehen geblieben ist. Im Schulgarten bauen sie Kartoffeln an. Die Menschen leben in Kellern und Lauben. „Aus 35.000 Einwohnern sind 25.000 geworden.“ Lydia Marburger wird ein bisschen sarkastisch, als sie Hitler erwähnt: „Sein Wort ist wahr geworden: Gebt mir zehn Jahre Zeit und ihr erkennt Deutschland nicht wieder.“
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Der Brief: Eine späte Entdeckung
Regina Steudel-Hadlich hat den Brief ihrer Großmutter nach Camp Barkeley, eine fast randlos mit einzeiligem Abstand beschriebene Seite, zusammen mit anderen Briefen und Fotos entdeckt, als sie und ihre Schwester den Haushalt der verstorbenen Mutter auflösten. „Ich habe mich darüber gefreut“, sagt sie über diese Entdeckung und spricht über ihre Gedanken: „Was für eine Zeit, wenn man für drei Eier ins nächste Dorf läuft.“ Und dann dieses Datum: „Der erste Tag im Frieden, der noch lange kein schöner Frieden war.“
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Der Sohn: Mit 18 zum Militär, mit 28 zurück
Hans Steudel, Lydia Marburgers Sohn aus der ersten Ehe, wurde 1920 geboren. Direkt nach der Ausbildung zum Kontoristen im Büro wurde er zum Reichsarbeitsdienst, dann 1939 zum Militär einberufen. Da war er noch 18. In Tunesien kam er 1943 in amerikanische Gefangenschaft. Dorthin ging der Brief der Mutter am 9. Mai 1945: „Ob du mittwochs deinen freien Tag hast und immer genügend zu essen hattest? Ob deine Äuglein dir keinen Kummer machen, die Zähne in Ordnung sind und Herz und Gemüt nicht Schaden genommen haben in der Gefangenschaft?“ Lydia Marburger hofft: Nach dem „zweiten Jahrestag hinter Stacheldraht“, so schreibt sie, „dürfen wir wohl anfangen und die Wochen zählen, die uns noch trennen, vom Wiedersehen“.
Erst 1948 kommt Hans Steudel zurück nach Siegen, zehn Jahre, nachdem er als 18-Jähriger in den Krieg ziehen musste. Aus der amerikanischen Gefangenschaft kam er in die französische Gefangenschaft in den Vogesen. Diese Zeit, so hat Regina Steudel-Hadlich von ihrem Vater erfahren, war ungleich härter als in den USA, wo es an nichts mangelte: Für den Kuchen zu Weihnachten bedankte sich Hans Steudel bei der Mutter mit dem Worten, er werde ihn sich bis zum Geburtstag aufsparen: an der Zensur vorbei ein Hinweis, dass die Gabe nicht nötig war. Denn Hans Steudel hatte am 31. März Geburtstag.
Danach: Neuanfang bei der Bahn
„Meine Mutter hat viel erzählt, dadurch habe ich eine Vorstellung von der Zeit bekommen“, berichtet Regina Steudel-Hadlich. Der Vater sei „eher sparsam“ gewesen, was den Blick zurück anging. „Er ist Menschen gegenüber sehr vorsichtig geworden“, berichtet die Tochter.
Die Erfahrungen in seinen jungen Jahren haben geprägt. „Jetzt, wo meine Kinder in demselben Alter sind, wird mir das bewusst.“ Arbeit hatte Hans Steudel schnell gefunden, er fing beim Eisenbahnausbesserungswerk an, wurde Fahrdienstleiter bei der Bahn. Ehefrau Helga war eine Siegenerin, die erste Herrenschneiderin mit Gesellenbrief – bis dahin war Frauen das Handwerk für Frauenkleidung vorbehalten. Am Lyzeum bekam Regina Steudel-Hadlich noch in der Sexta den Aufstand der Schülerinnen gegen ihre Direktorin mit – das Aufbäumen der Nachkriegsgeborenen gegen die Generation ihrer Eltern. Helga Steudel starb 2008. Hans Steudel ist seit 1982 tot, er wurde nur 62 Jahre alt.
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Der 9. Mai: „Wunderbare Feierstunde“
Lydia Marburger beschreibt, wie sie den Morgen des 9. Mai 1945, den Tag vor Himmelfahrt, als eine „wunderbare Feierstunde“ erlebt: Die Kirchenglocken läuten, der Kuckuck ruft, die Sonne scheint, die Lerche singt. Das Häschen bekommt frischen Klee, „damit uns unser Häschen nächste Woche lebensfähige Junge schenkt“. 3584,24 Mark sind auf Hans’ Konto bei der Sparkasse. „Da nun heute Frieden ist, ob noch eine Überweisung kommt?“ Im Dorf wird hörbar aufgeräumt, es hämmert und pocht. „In dieser erhabenen Stunde schloss ich dich, mein Junge, ganz fest in meine Arme.“ Ihre Enkeltochter hat Lydia Marburger nie kennen gelernt. 1959 ist sie gestorben.
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