Geisweid. Traute Fries hat die Schicksale von jüdischen Familien aus Geisweid aufgeschrieben. Sonntag wird die Broschüre im Siegener Ratssaal vorgestellt.
Vier jüdische Familien haben in Geisweid gelebt. Traute Fries, Vorstandsmitglied des Aktiven Museums Südwestfalen, hat ihre Geschichten aufgeschrieben – nur eine geht gut aus. Die Geisweiderin kann auf Aufzeichnungen ihres Vaters Wilhelm Fries zurückgreifen: „Er kannte sie alle, da meine Eltern von 1933 bis 1941 bei Samuel Frank wohnten“ – dessen Familie und deren Schicksal wiederum in der Siegener Geschichtsschreibung längst gut aufgearbeitet worden ist. Die Broschüre über die Familie aus Klafeld-Geisweid wird am Sonntag im Siegener Ratssaal erstmals vorgestellt. Dort findet ab 15.30 Uhr die Gedenkstunde zur Befreiung von Auschwitz vor 75 Jahren statt. Traute Fries: „Wir möchten dazu beitragen, dass sich Menschen respektvoll und tolerant begegnen, dass Ausländerfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus und Ausgrenzung keine Chance haben.“Brand der Siegener Synagoge 1938- Bilder völliger Zerstörung
Familie Schatzki
Ferdinand Schatzki, gebürtig aus Bialystok/Polen, war Oberingenieur bei der Siegener Verzinkerei. Seine Ehefrau Beate war Tochter des Fabrikanten Simon Stern, Eigentümer einer Strickwarenfabrik in Schmallenberg, aus der 1939 die Firma Falke wurde. Beate und Ferdinand Schatzki hatten fünf Söhne: Herbert eröffnete eine Textilfabrik in Balingen, er emigrierte 1938 mit seiner Familie und der inzwischen verwitweten Mutter in die USA. Paul wurde Schiffsarzt, er ließ sich in Melbourne/Australien nieder. Erich war Flugzeugkonstrukteur, er machte Karriere als technischer Direktor der Lufthansa, flüchtete über die Schweiz in die USA und fand in Israel ein neues Zuhause. Gestorben ist er in Kalifornien. Seit 1996 erinnert an ihn der Erich-Schatzki-Weg auf dem Lufthansa-Gelände in Hamburg-Fuhlsbüttel. Walter wurde Buchhändler, er flüchtete in die USA – ebenso Richard, der Arzt, dem 1933 die Lehrbefugnis aus rassischen Gründen verweigert wurde und schließlich in Harvard Radiologie lehrte. Nach ihm benannt ist der „Schatzki-Ring“, eine Verengung der Speiseröhre.
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Familie Rosenblum
Abraham David Rosenblum kam aus Oppeln, seine Ehefrau Estera aus Lodz, wo auch Sohn Max geboren wurde. 1919 zogen sie nach Geisweid, wo auch Sohn Joseph zur Welt kam. Max, der das heutige Fürst-Johann-Moritz-Gymnasium besuchte, verließ die Schule nach der 10. Klasse und arbeitete im Kaufhaus Michel Marx in Siegen. Als das „arisiert“ wurde, flüchtete Max zusammen mit anderen jungen Leuten 1936 nach Palästina, dem späteren Staat Israel. In einer Festschrift seiner ehemaligen Schule erinnert sich Max, der sich nun Meir nannte, an einen Spruch seines Lehrers, der seinen guten Schüler, der als einziger die Antwort wusste, damit eigentlich loben wollte: „Ihr verdammten Quadratesel, muss euch ein Jude Grammatik und Deutsch beibringen? Schämt euch!“ Meirs Bruder Joseph, ebenfalls 1936 emigriert, starb 1948 im jüdisch-arabischen Krieg. Abraham Rosenblum, der bei den Eisenwerken arbeitete, und seine Frau Estera wurden 1938 deportiert und starben im Ghetto von Lodz.
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Familie Salomon
Jenny Frank, Schwester des Weidenauer Kaufmanns Samuel Frank, verlor ihren Ehemann im 1. Weltkrieg. Sie führte das Schuhgeschäft ihrer Eltern in Geisweid weiter und heiratete den Kaufmann David Salomon, der schon 1931 starb. 1938 musste sie das Haus an den Friseur Erich Wagener verkaufen; sie starb 1941.
Gedenken an die Opfer
Die Namen der Opfer, die in der NS-Zeit umgekommen sind oder danach an den Folgen der Verfolgung gestorben sind, stehen im aktiven Gedenkbuch des Aktiven Museums Südwestfalen, das Klaus Dietermann (†) und Dr. Ulrich Opfermann angelegt haben: aktives-gedenkbuch.de
Seit 2006 werden auch im Kreisgebiet Siegen-Wittgenstein Stolpersteine vor den Häusern verlegt, in denen Opfer der NS-Gewaltherrschaft ihren letzten frei gewählten Wohnsitz hatten.
Tochter Doris zog zur Familie Frank, Ilse heiratete nach Düsseldorf. Ilse erwartete ein Kind, als sie 1941 nach Minsk deportiert wurde. Doris ging in Geisweid weiter zur Schule, bis sie 1938 entlassen wurde – jüdische Kinder durften keine „deutsche“ Schule mehr besuchen. Diese Auffassung vertrat vor allem auch ihr am Hilchenbacher Lehrerseminar ausgebildeter Rektor Walter Nehm („Nicht mit der jüdischen Religion haben wir es hier zu tun, sondern mit der jüdischen Rasse“), der nach dem Krieg weiter Lehrer sein durfte. Doris wurde gemeinsam mit ihrer Cousine Inge Frank und deren Eltern Samuel und Paula Frank 1942 nach Zamocz deportiert.
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Geschwister Löwenstein
Die Geschwister Meta, Julius und Hilda Löwenstein kamen aus Bochum, sie hatten in der Unteren Kaiserstraße ein Geschäft für Manufakturwaren, das sie 1938 schließen mussten. Geld und Schmuck wurden beschlagnahmt, der Hausrat durch die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) „an Bedürftige verteilt“, wie Zeugen später im Wiedergutmachungsverfahren berichteten. Eine Nachbarin versorgte die Geschwister mit Lebensmitteln, „sie habe nicht mit ansehen können, wie die Nachbarn langsam verhungerten“, zitiert Traute Fries aus einem Zeitzeugenbericht. Die Schwestern waren, wie die Familie Frank, in dem Transport nach Zamocz am 28. April 1942. Julius Löwenstein wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo er seine Frau Alma kennenlernte. Sie überlebten und heirateten 1945 in Siegen.
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