Siegen/Seattle. Kinderbetreuung, Müll entsorgen, Vorurteile ausräumen: Siegener Hagen Kamieth arbeitet als Au-pair in den USA und kämpft mit Geschlechterrollen
Um 9.30 Uhr hat Hagen Kamieth das erste Mal Zeit zum durchatmen. Die Aufgaben im Haushalt – Müll entsorgen, Spülmaschine ausräumen, Kinderbetreuung – sind erledigt. Jetzt hat der 19-Jährige frei. Seit mehr als einem halben Jahr lebt der junge Siegener in Seattle. In der amerikanischen Stadt arbeitet Hagen Kamieth als Au-pair. Von seiner Organisation „ InterExchange “ wurde er zum Au-pair des Jahres 2019 ausgezeichnet. Seine Gastfamilie hatte ihn dafür nominiert.
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Die Klischees
Dass er als männlicher Au-pair die Auszeichnung erhält, erscheint ihm immer noch ungewöhnlich. „Es ist von den Klischees her ein 'Mädchen-Job'. Es gibt immer noch die Rollenvorstellung 'die Frau kümmert sich um das Kind'“, sagt der Siegener. „Es gibt einige Organisationen, die keine Jungs als Au-pairs aufnehmen“, bedauert Hagen Kamieth. Auch bei InterExchange musste er besondere Voraussetzungen erfüllen. So habe er mitbekommen, dass er mehr Betreuungsstunden für die Bewerbung vorweisen musste als die weiblichen Au-pairs in der Organisation. „Das ist in unserer Gesellschaft so vorgeschrieben. Meiner Meinung nach können sich Männer genauso gut um Kinder kümmern wie Frauen.“
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Fünf Jungen von rund 40 Au-pairs waren es bei den Einführungstagen in New York, in Seattle habe er bislang drei männliche Kinderbetreuer getroffen: „Es gibt sicher noch mehr, aber es ist noch total unpopulär für Jungen, Au-pair zu werden.“ Mit der Auszeichnung könne er nun ein Zeichen setzen, so der gebürtige Siegener. Dabei bleibt er bescheiden: „Meine Gastfamilie macht es mir auch leicht.“
Die Gastfamilie
Seit Anfang August betreut Hagen Kamieth die sechsjährige Kira. Beide Eltern arbeiten Vollzeit. „Ich fühle mich wie ein großer Bruder. Ich mache ihr morgens das Frühstück, fahre sie zur Bushaltestelle und nach der Schule zum Schwimmunterricht oder in die Turngruppe“, erklärt er. Häufig höre er von Bekannten, er spiele ja nur mit dem Kind. „Das stimmt nicht.“ Die Gefühlsebene werde in vielen Fällen vergessen. „Ich bin ein Ansprechpartner für Kira. Nach der Schule reden wir über ihren Tag. Wenn sie ein Problem hat, dann kommt sie zu mir.“
Au-Pair in den USA
Die Arbeitszeiten von Au-Pairs sind in den Staaten gesetzlich festgeschrieben, erklärt Hagen Kamieth. Er dürfe zum Beispiel nicht mehr als zehn Stunden pro Tag bzw. 45 Stunden in der Woche arbeiten. Dafür stehen ihm in der Woche anderthalb Tage Urlaub zu.
Von InterExchange erhält er ein Taschengeld von rund 200 Dollar in der Woche. Unterkunft, Verpflegung und Flüge zahlt die Gastfamilie. Einmalig musste er 490 Euro an die Organisation überweisen.
Zum Abendessen seien dann die Eltern wieder zu Hause. Gekocht werden Speisen ohne Kohlehydrate: Kartoffeln und Nudeln werden nicht serviert. Typisch deutsch bleibt es dennoch: Würstchen, Sauerkraut und Rotkohl gehören zu den Leibgerichten der Familie. „Danach bleiben wir noch am Küchentisch sitzen und reden miteinander.“ Manchmal bringe er Kira auch ins Bett. „Mir war es wichtig, dass ich nicht nur Angestellter bin, der für die Familie arbeitet, sondern ein Familienmitglied“, erzählt Hagen Kamieth. Er sei zwar nicht ihr Sohn, aber sie vertrauten ihm und er vertraue ihnen. „Sie sind eine zweite Familie.“ An den Wochenenden begleite er sie zum Beispiel auf Ausflüge. „Es war mein Traum, eine kleine Schwester zu haben."
Das Privatleben
In Deutschland hat der 19-jährige noch zwei Geschwister. Den heute achtjährigen Bruder habe er als Jugendlicher nach der Schule betreut. Im Februar war Hagen Kamieth eine Woche für einen Überraschungsbesuch zurück in Deutschland. „Ich bin ein Familienmensch und Winter ist nicht die schönste Jahreszeit, um von zu Hause weg zu sein.“ Im Nachhinein sei der zweite Abschied jedoch sehr schwer gewesen. Bis Ende Juli bleibt Hagen Kamieth noch in Seattle. Verlängern möchte er nicht. „Ich wollte ein Jahr keine Schule, kein Studium, keine Ausbildung machen.“
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Daraus wurde ein Jahr „Auslandreise“. Für Work&Travel in Australien, wie es andere in seinem Alter machen, sei er nicht spontan genug. „Ich hatte am Anfang Angst, dass ich viel arbeite und keine Freunde kennenlerne“, berichtet Hagen Kamieth. Doch die Koordinatorin der Organisation in Seattle lade ein Mal im Monat zum Treffen mit den Au-pairs in der Stadt, erzählt er. Ein Mal pro Woche rufe sie bei ihm an und vergewissere sich, dass er nicht zu viel arbeite, genug Freizeit habe und es ihm gut gehe. Bei Schwierigkeiten mit der Familie sei sie 24 Stunden erreichbar und schnell vor Ort. Sollte es mit der zugewiesenen Familie nicht funktionieren, sei ein „Re-Match“ möglich, erklärt Hagen Kamieth. „Doch ich fühle mich hier sicher.“
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In seinem „Sektor“ in Seattle leben 15 weitere Au-pairs aus Europa und Südamerika. „Es ist jedoch schwierig, Amerikaner in meinem Alter zu finden, weil wir einen unterschiedlichen Tagesrhythmus haben.“ Wenn er vormittags frei habe, sind sie auf dem College, nachmittags müsse er dann wieder arbeiten. Dazu komme die Altersgrenze von 21 Jahren in Bars und Clubs.
Doch statt an der Theke sitzt Hagen Kamieth im Kinderzimmer mit Kira. Sein Tipp: „Man braucht die Einstellung, dass man nicht nur arbeitet, sondern mit der Familie lebt.“ Für ihn zähle dazu auch, dass man freiwillig aufräumt, sollte man gerade nicht arbeiten. „Man muss vom ganzen Herzen dabei sein.“ Und was rät Hagen Kamieth anderen Jungs, die überlegen Au-pair zu werden? „Einem Mädchen die Haare zu kämmen und zu flechten ist kein Problem.“
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