Netphen. Nach und nach füllt sich das neue Haus St. Anna am Rande des Netphener Freizeitparks.
Heinz Haber war Landwirt, und er war begeisterter Skiläufer. Zwei Miniaturkühe und ein Foto in dem Holzkästchen an der Tür stellen den Bewohner des Zimmers vor. Damit seine Besucher wissen, worüber er bestimmt gern erzählt. Herr Haber ist einer von inzwischen um die 40 Bewohnern im Haus St. Anna. Am 1. Juli 2019 hat die Marien-Gesellschaft das Pflegeheim oberhalb des Netphener Freizeitbades eröffnet.
Das Leben im Haus oder: Wo die Nacht Tag sein darf
Der „Männertisch“ unten ist verwaist. Oben, wo die Frauen gekocht haben, riecht es nach leckerer Gemüsesuppe. Zwischen den Räumen der vier Hausgemeinschaften auf zwei Etage ist immer Betrieb: Der Flur ist eigentlich eine Promenade, mit Sesseln und erhöhten, beheizten Sitzbänken und sogar einem Ruhebett, wenn jemand einmal eine längere Pause einlegen möchte. Manche sind so rastlos, dass sie nicht einmal zum Essen stehen bleiben mögen. Die Leute aus dem Haus haben auch dafür einen Namen: „Eat & Walk“.
Der endlose Rundgang führt nicht ins Freie, die Türen sind, als Bücherwand verkleidet, so unsichtbar, dass man sie vergisst. Zum schönen Schein gehört Klartext: Das Haus St. Anna ist ein geschlossenes Haus für Menschen mit Demenz, die hier wohnen, weil ein Amtsrichter das angeordnet hat. Die nicht auffindbare Tür ist, wie Stephan Berres es formuliert, „eine Einschränkung des Grundrechts auf Freiheit“. Zugleich aber auch die freundliche Alternative zu Bauchgurten oder Bettgittern in klassischen Pflegeheimen, wo das Personal sich mühen muss, dass ihre hilflosen Schutzbefohlenen sich nicht draußen in Gefahr bringen.
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Im Haus ist das Leben entspannt. Hier lebt jeder seinen eigenen Rhythmus, schläft und wacht, wann er es möchte, hält sich da auf, wo er will. „Was morgen ist“, sagt Stephan Berres, „diesen Gedanken hat der Mensch, der hier wohnt, nicht.“ Das ist auch für die derzeit um die 45 Mitarbeiter eine Herausforderung. „Wir müssen uns jeden Tag in die Welt der Menschen hereinversetzen, die hier leben.“ Dazu gehört es auch, einmal nur aus der Zeitung vorzulesen. Oder gar nichts zu tun. Und trotzdem zu wissen, dass man seine Arbeit tut. Leicht war es nicht, die Pflegekräfte für das Haus St. Anna zu finden oder selbst auszubilden. „Sie haben sich bewusst für dieses Haus entschieden“, berichtet Stephan Berres, der wohl weiß, dass nicht alle die Belastung auf Dauer verkraften: Etwa ein Drittel wird wohl auch hier nach ein, zwei Jahren den Dienst quittieren.
Nächster Neubau noch nicht in Sicht
„Die Zahl der Anfragen schießt durch die Decke“, berichtet Heimleiter Stephan Berres. Dennoch wird die Marien-Gesellschaft so bald nicht nachlegen können. „Es herrscht Pflegenotstand“, erinnert Diana Ruhmöller, Leiterin d der Wohn- und Pflegeeinrichtungen, an die schwierige Personalsituation.
Weitere Probleme: „Grundstücke sind rar geworden“, zumindest die in zentraler Lage. Und gut ausgelastete Baufirmen reißen sich nicht um Aufträge. Hindernis waren lange Zeit auch die Kosten der Investition, denen keine Einnahmen gegenüberstehen: „Das wandelt sich aktuell zum Positiven.“
Der Weg ins Haus oder: Wie St. Anna sich füllt
Es gibt nicht viele Häuser wie das St. Anna. Etwa 25 in ganz Deutschland, schätzt der Heimleiter. Entsprechend kommen die Nachfragen aus dem ganzen Land. „Die Angehörigen brauchen schnell Hilfe“, weiß Stephan Berres, der auch die Geschichten von dramatischen Zuspitzungen zu Hause kennt, wenn die Pflege des dementen Elternteils nicht mehr gelingt. „Hier wird viel geweint.“
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Die Arbeit mit Angehörigen ist dem Team wichtig, im März gibt es einen ersten Angehörigentag. Sie werden sich daran gewöhnen, dass für ihren Verwandten zum Beispiel eine veränderte Bedeutung hat und vertraute Kleidungsstücke an anderen Hausbewohnern sehen oder dass sie von ihnen fremden Bewohnern wie vertraute Freunde begrüßt werden. Stephan Berres weiß auch, dass die Besuche weniger werden. Denn irgendwann werden sie nicht mehr erkannt. „Das ist für die Angehörigen das Allerschlimmste.“
Um das Innenleben des Hauses nicht aus den Fugen geraten zu lassen, ziehen die Bewohner nach und nach ein. Zu den letzten 20 Plätzten, die bezogen werden, gehört die Hausgemeinschaft 5 für bis zu 14 unheilbar Erkrankte, die außer an Demenznetphen freut sich auf haus st. annazum Beispiel an Krebs oder den Folgen von Schlaganfällen leiden und palliativ versorgt werden. Die Bewohner sind bettlägerig, manche sprechen nicht mehr. Aber sie können hier bleiben, bis zu ihrem letzten Tag. Das Haus hat übrigens sogar einen eigenen Geistlichen: Diakon Matthias Weißner, der auch gelernter Altenpfleger ist, nimmt Brüche mit einer strengen Gottesdienstordnung keineswegs übel.
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Letzter Wille oder: Was wirklich wichtig ist
Jemand hat einen Teddy im Schalke-Outfit in den Kasten an der Tür gesetzt. Der gehört zur Biografie der Bewohnerin, die die Menschen, die sie betreuen, kennen sollten. Jeder sollte seine eigene Geschichte beizeiten aufschreiben, rät Stephan Berres. Dabei kommt es auf die ersten bis zu 50 Jahre an, die den Menschen prägen. Sollte er selbst einmal dement werden, will Stephan Berres, dass die anderen über ihn wissen, dass er Iron Maiden lieber als Helene Fischer hört, morgens einen Kaffee braucht und er keinen Fisch mag. „Es kann nicht bei diesem einen Haus Anna bleiben“, sagt er.
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