Siegen. Michaela Vidláková überlebte als Kind das Lager Theresienstadt. An der Bertha-von-Suttner-Schule in Siegen erzählt sie Schülern ihre Geschichte.

Was muss der Mensch tun, damit das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte niemals wiederholt wird? „Sich stets daran erinnern, nie vergessen?“, fragt Dr. Michaela Vidláková in der Aula der Bertha-von-Suttner-Schule in Siegen die Schüler – die kopfnickend zustimmen. „Ja, es darf niemals vergessen werden. Aber wir dürfen nicht nur daran denken, wir müssen auch etwas tun“, mahnt die 83-jährige Holocaust-Überlebende. Aus diesem Grund sitze sie an diesem Morgen nicht zu Hause in Prag, ihrer Heimatstadt. Sie möchte der nachwachsenden Generation ihre Geschichte persönlich erzählen. Die Geschichte von ihrer Zeit im Ghetto Theresienstadt.

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Verbote für die jüdische Bevölkerung

Sie beginnt drei Jahre vor ihrer Geburt, mit der Machtergreifung Hitlers 1933 und den „antijüdischen Maßnahmen“, die in der Folge umgesetzt wurden. Zunächst in Deutschland, nach der Besetzung der damaligen Tschechoslowakei durch die Nazis 1939 auch in ihrer Heimatstadt. „Ein normales Leben war für die jüdische Bevölkerung nicht mehr möglich“, erzählt Michaela Vidláková, während auf einer Leinwand hinter ihr die Verbote aufgelistet sind, die damals in Kraft traten. Enteignung von Besitz, Berufsverbot für Ärzte, Lehrer, Künstler und viele weitere, Verbot öffentlicher Verkehrsmittel sowie kulturellen Einrichtungen, Kontaktverbot zur nicht-jüdischen Bevölkerung – und vieles mehr. „Für mich war es sehr schwer, auf einmal keine Freunde mehr zu haben, nicht mehr auf Spielplätze gehen zu dürfen, ausgegrenzt zu werden“, sagt sie.

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Ein Foto einer Schulklasse von 1942 mit etwa 30 Jugendlichen und einer Lehrerin wird auf die Leinwand projiziert. Alle tragen einen Davidsstern, die damalige verpflichtende Kennung für Juden. Das gleiche Foto wird wieder auf die Leinwand geworfen, mit dem Unterschied, dass die Schüler, die in den darauffolgenden drei Jahren bis zum Kriegsende 1945 von den Nationalsozialisten ermordet wurden, nicht mehr gezeigt werden. Es ist noch eine Schülerin zu sehen, und die Klassenlehrerin, Michaela Vidlákovás Mutter. „Es waren Jugendliche, so wie ihr, die von einer Zukunft träumten.“ Eine Zukunft, die aufgrund ihrer Religion verwehrt wurde. Schüler wie Lehrer blicken betroffen auf die Bühne. Alle in der Aula Anwesenden versuchen, die Situation zu begreifen. Vergeblich.

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Das Leben in dem Lager Theresienstadt

Dezember 1942 dann die Deportation nach Theresienstadt, das als Transitlager auf dem Weg in die großen Vernichtungslager diente. Eigentlich sollte ihre Familie direkt weiter nach Auschwitz gebracht werden. Dadurch, dass ihr Vater als Schreiner arbeiten konnte, blieben sie von einer Weiterfahrt in den sicheren Tod jedoch verschont. Doch auch das Leben im Lager Theresienstadt war dem Tod oftmals näher als dem Leben. Aufgrund von Masern, Scharlach, Typhus und Hepatitis verbrachte sie ein ganzes Jahr in einem Krankenhaus, was jedoch über keinerlei Medikamente verfügte. Grundsätzlich fehlte es im Lager an Nahrung, Kleidung, Kohle zum Heizen und vielen mehr.

Weitere Informationen

Der Arbeitskreis der NS-Gedenkstätten und -Erinnerungsorte in NRW beleuchtet auch die Geschichte des jüdischen Lebens im Siegerland: www.ns-gedenkstaetten.de

Weiterführende Informationen zum Thema Nationalsozialismus sowie inhaltliche Aufbereitungsmöglichkeiten für den Schulunterricht bietet die Bundeszentrale für politische Bildung an: www.bpb.de

Insgesamt wurden über 140.000 Menschen nach Theresienstadt geschickt, wovon lediglich sieben Prozent bis Kriegsende dort blieben. Der Rest wurde in Vernichtungslager gebracht oder starb vor Ort aufgrund von Mangelernährung, Krankheiten und Erschöpfung. Zum Ende des Vortrags zeigt Michaela Vidláková Fotos von großen Bergen an Schuhen, Brillen, Kleidung. Besitztümer von KZ-Insassen, die in den Gaskammern zu Tode kamen. „Jede Brille, jeder Schuh ist ein Mensch gewesen, eine Mutter, ein Vater, ein Sohn, eine Tochter, ein Bruder oder eine Schwester“, sagt Michaela Vidláková. „Ihr sollt niemals so etwas erleben.“

Schüler der Siegener Gesamtschule stellen Fragen

Die sichtlich bewegten Schüler der Mittel- und Oberstufe haben die Möglichkeit, Fragen an eine Frau zu stellen, die mit ihrer lebensfrohen Aura fasziniert – und nutzen das. Im Vorfeld fanden Vorbereitungen im Gesellschaftslehreunterricht, Sozialwissenschaften und Geschichte statt. Zudem wurde die Behandlung des Themas in den Fächern Religion und Philosophie durch einen weiteren Blickwinkel beleuchtet, sagt Anja Siebert, didaktische Leiterin der Schule. Was ihr Kraft in dieser dunklen Zeit gegeben habe, will eine Schülerin etwa wissen. „Meine Eltern. Die Gewissheit zu haben, dass es Menschen gibt, auf die ich mich verlassen kann.“ Eine andere Schülerin möchte wissen, ob es auch Tage gäbe, an denen sie nicht an die damalige Zeit denken müsse. Ja, solche Tage gäbe es tatsächlich.

Doch die Momente, an denen sie erinnert werde, würden überwiegen. „Es sind Kleinigkeiten, die Erinnerungen wecken“, sagt Michaela Vidláková. Ein Stück Brot in der Mülltonne würde sie etwa an den großen Hunger erinnern. Bis heute könne sie kein Essen wegschmeißen. Die Antwort auf die abschließende Frage eines Schülers, wann sie das erste Mal das Gefühl von Freiheit spürte, bewegt die ganze Aula. Bei der Befreiung des Lagers durch die rote Armee kam ein russischer Soldat auf einem Pferd zu ihr und weiteren Kindern und hob sie auf das Pferd. „Als ich dort oben saß, der Wind im Gesicht, da spürte ich Freiheit, ja.“

„Diese Geschichtsstunde macht etwas mit einem“, sagt Andres Kremer, Dezernent für Gesamtschulen und Sekundarschulen im Kreis Olpe und Kreis Siegen-Wittgenstein. Und sie sei mit einem Auftrag verbunden. „An uns, an eure Generation, diese Geschichte weiterzutragen“, damit sie sich niemals wiederholen werde.

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