Siegen. . Die Holocaust Überlebende Anita-Lasker Wallfisch erzählt in der Freikirchlichen Gemeinde Siegen von ihren Erlebnissen im Konzentrationslager.
Anita Lasker-Wallfisch hat lange nicht über Auschwitz gesprochen. Auch und gerade nicht mit ihren Kindern. „Wie erklären Sie einem fünfjährigen Jungen, dass es eine Zeit gab, in der die Guten im Lager saßen und die Schlechten waren draußen. Das hätte doch sein Weltbild völlig verdreht.“ Inzwischen ist sie regelmäßig unterwegs und erzählt von ihren Erlebnissen. Auch in Siegen, auf Einladung der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, im sehr gut gefüllten Gottesdienstsaal der evangelisch-freikirchlichen Gemeinde.
„Verhaftet, deportiert, überlebt – und das Leben danach. Das Kriegstrauma, welches nie aufhört – Bericht zweier jüdischer Generationen“, unter diesem Titel berichten Anita Lasker-Wallfisch und ihre Tochter Marianne Jacobs-Wallfisch über ihr Leben. Die Tochter sah die tätowierte Nummer auf dem Unterarm der Mutter, traute sich aber nicht, zu fragen. Mit 12 habe sie einmal Zigaretten in einer Schublade gesucht und ein Fotoalbum mit schrecklichen Bildern gefunden.
Generationenübergreifendes Trauma
„Danach habe ich nicht gewusst, was mir mehr Schuldgefühle gemacht hat, der Fund oder die verbotene Suche nach Zigaretten“, sagt die Psychotherapeutin, die sich auf das Thema „Transgenerations-Traumata“ spezialisiert hat. Sie nahm zur Kenntnis, dass die deutsche Sprache in ihrem Elternhaus verboten war, dass die Mutter immer wieder zusammenzuckte, wenn sie deutsche Autos in London sah oder irgendwo deutsche Wörter hörte, aber geredet wurde nicht.
Der 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz sei dann im Vereinigten Königreich ein Anlass gewesen, über jene Dinge zu berichten. Ihre Mutter habe plötzlich mit unzähligen Journalisten gesprochen, „mit mir aber nicht“. Dann kam eine gemeinsame Reise für einen Dokumentarfilm, der die beiden Frauen nach Breslau führte, wo Anita Lasker-Wallfisch 1925 geboren wurde, und nach Auschwitz. Einige Sequenzen des Films werden am Beginn des Abends gezeigt.
Besuch in Bergen-Belsen
Inzwischen habe sie ihren Frieden mit den Deutschen gemacht, erfahren die Zuhörer und auch, dass Marianne Jacobs-Wallfisch einmal das Erbe ihrer Mutter antreten soll. „Ich bin jetzt 93 und mir darüber klar geworden, dass ich nicht ewig hier sitzen kann“, zuckt die große Cellistin die Schultern. Ihre Tochter hat viele Freunde in Deutschland gefunden, vor allem aber zu sich selbst. Mit 60 habe ihr Leben eigentlich gerade erst begonnen.
Hat Anita Lasker-Wallfisch schon einmal einen Leugner des Holocaust getroffen, will ein Zuhörer wissen. „Der soll sich hüten“, kommt die energische Antwort. Kein Genozid sei so perfekt dokumentiert. „Fahren Sie doch nach Auschwitz. Haben wir das selbst gebaut? Haben wir die Schuhe gesammelt, die Prothesen?“ Vor einigen Jahren wurde sie in Bergen-Belsen gefragt, wie sie einen solchen Besuch verkrafte. Gut, weil sie wieder gehen könne, habe sie geantwortet. Die Täter von damals hätten Millionen umgebracht. „Aber nicht alle. Wir waren wohl doch zu viele. Ich bin noch da. Ich habe gesiegt.“
Frauenorchester war die Rettung
„Der Holocaust gehörte mir“, sagte Anita Lasker-Wallfisch ihrer Tochter. Sie wollte die Erlebnisse nicht teilen. Dann sei es aber einfach Zeit gewesen, zu sprechen, findet sie. Nach ihrer Befreiung am 15. April 1945 begann sie ein neues Leben in England, musste „acht Jahre aufholen, die mir weggenommen worden waren“.
Wer einmal im Lager war, so heiße es einem Sprichwort, der komme nicht mehr heraus. Wer nicht dort war, der komme nicht hinein. Warum also dann darüber erzählen? Die Frau, die später auf der Insel ein großes Kammerorchester mit aufbaute, wurde in eine typisch deutsche Familie hineingeboren. Ihr Vater wollte bis zuletzt nicht glauben, dass sich die NS-Regierung länger halten könnte. Immerhin schickte er die älteste Tochter nach London, die anderen kamen nicht mehr heraus.
Gefälschte Urlaubsscheine
Zuletzt waren nur noch Anita und ihre Schwester Renate in Breslau, arbeiteten in der „kriegswichtigen Produktion“ von Toilettenpapier und fälschten nebenbei Urlaubsscheine für die französischen Zwangsarbeiter. „Ich wollte nicht warten, bis irgendein Idiot kommt, der uns abholt, um uns zu ermorden“, erzählt sie, warum beide auch für sich Urlaubsscheine anfertigten, um ins freie Frankreich zu kommen und sich dort zu verstecken.
Die jungen Frauen wurden am Bahnhof erwischt und verhaftet, kamen ins Gefängnis und später getrennt nach Auschwitz. Dort hatte Anita das erste Mal richtig Glück, als verurteilte Verbrecherin und nicht in einem der Judentransporte in das Lager zu kommen, das sie noch heute mit Angst, Gestank von brennenden Menschen, Hundegebell und Dunkelheit assoziiert, „obwohl es eigentlich gar nicht zu beschreiben ist“.
Und dann erwähnte sie, Cello spielen zu können. Das brachte sie ins Frauenorchester und ließ sie die Hölle überleben, stets das Elend und Sterben der anderen vor Augen. Sie traf ihre Schwester wieder, und beide schafften es wider alle Erwartungen, Auschwitz anders zu verlassen, „als durch den Schornstein“. Sie kamen ins „Erholungslager“ Bergen-Belsen, wo die „Menschen wie die Fliegen starben“, überlebten auch diese Tortur. Das alles wird von Anita Lasker-Wallfisch sehr kraftvoll erzählt, immer auch mit einer gewissen humorigen Note, die es vor allem ihr selbst wohl erlaubt, den Schrecken auf Distanz zu halten.