Hilchenbach. . Wer Unterstützung braucht, muss manchmal früh aufstehen. Der Fachkräftemangel zehrt an den Pflegediensten. Wir haben einen davon begleitet.

Es ist dunkel. Es ist kalt. Es ist früh. Natali Herrmann kommt mit dem Schlüsselbund aus dem Büro der Mobilen Altenpflege Haus Abendfrieden in der Dammstraße und startet den gelben Seat Mini.

Drei Adressen hat Natali Herrmann für die frühe Tour mit dem Reporter auf dem Plan. Normal wären acht bis zehn. Und normal würde sie auch schon um 6 starten, nicht erst um viertel vor 7.

Mobile Altenpflege: Kompressionsstrümpfe anziehen an der ersten Station

Klingeln, um sich anzukündigen, und gleichzeitig den Wohnungsschlüssel im Schloss umdrehen. In dem Mehrfamilienhaus in Haarhausen wohnt Annelies Natusch. Um halb 6 ist die 79-Jährige aufgestanden. „Man muss ja fertig sein.“ Die Altenpflegerin wird ihr die Kompressionsstrümpfe anziehen. „Ich hatte schon schlimmere Zeiten hinter mir“, berichtet sie: Nach zwei Hüftoperationen und einer Bandscheibenoperation war sie erst einmal für ein paar Wochen im Pflegeheim. „Da will ich nicht wieder hin.“

Einmal in der Woche kommt der Pflegedienst zum Duschen, einmal in der Woche die Haushaltshilfe, der Sohn ist in der Nähe – deshalb ist Annelies Natusch damals, vor fünf Jahren, auch nach Hilchenbach gezogen. So sieht die eine Hälfte des Unterstützungspakets aus. Für die andere sorgt die Seniorin selbst: Ausgedehnt spazieren gehen, intensiv auf dem Standfahrrad in die Pedale treten, immer in Bewegung bleiben. „Ich war immer im Turnverein.“

Fragen an Guido Fuhrmann, Geschäftsführer Haus Abendfrieden

1 Was muss passieren, um den Engpass an Pflegekräften zu überwinden?

Es müssen mehr Pflegekräfte ausgebildet werden,die Lage wird sich dramatisch verschärfen. Die Rahmenbedingungen – allem die Arbeitszeiten – müssen verbessert werden. Die Arbeitsinhalte müssen verändert werden: mehr Zeit für den Menschen, weniger schreiben. Arbeit und Pflegekraft sollten eine höhere Wertschätzung von Prüfbehörden, Politik und Presse erfahren.

2 Wie schätzen Sie Bemühungen in der Branche ein, Fachkräfte durch Prämienzahlungen von Mitbewerbern abzuwerben?

Dramatisch: Die Wohlfahrtsverbände verfügen über deutlich mehr Geld und sind dadurch in der Lage, hohe attraktive Prämien zu zahlen. Durch die Forderung der Politik, dass Kliniken auch zukünftig Personalquoten erfüllen müssen, wird sich die bereits dramatische Situation noch weiter verschlimmern. Da in der ambulanten Pflege noch viele Krankenschwestern unterwegs sind, wird dieser Bereich besonders leiden und leerbluten.

3 Könnte die ausgeschöpfte Kapazität bei mobiler Pflege dazu führen, dass Menschen früher in Heime umziehen müssen?

Ja ... wenn Plätze frei sind. Denn durch die Umsetzung der Einzelzimmerquote auf der einen Seite und die Tatsache, dass die Bedarfsplanung von Pflegeplätzen von einem der größten Kostenträger, dem Sozialamt, dominiert wird, lässt sich erahnen, dass in Zukunft nicht mit einer deutlichen Zunahme an Pflegeplätzen zu rechnen ist.

Aus den fünf Minuten, die die Pflegekasse vorgibt, ist ein Viertelstündchen geworden. Natali Herrmanns Tourenplan lässt so viel Spielraum zu. „Mobil ist mein Ding“, sagt sie, „jeder Tag ist anders.“ Die 44-Jährige ist gelernte Friseurin, nach der Familienphase ist sie vor nunmehr etwas zehn Jahren für den Wiedereinstieg umgestiegen, zuerst als Pflegehelferin, seit ein paar Tagen als examinierte Kraft. Draußen wird es langsam hell.

Zweite Station: Mann (88) assistiert bei der Pflege

Bei den Achenbachs empfangen drei Leute die Pflegerin mit Glückwünschen und einer Umarmung: Da sind für das Examen kräftig Daumen gedrückt worden. Die Patientin leidet an einer schweren Darmerkrankung, ist bettlägerig. „Die Ärzte hatten mir nur noch ein halbes Jahr gegeben“, berichtet Helga Achenbach. Bis jetzt hat sie neun Jahre geschafft. Sie ist 88. Ihr Mann Erwin wird 88. Tochter Dietlind ist 60, geistig behindert, sie wird gleich zur Tagespflege abgeholt.

Heute assistiert Erwin Achenbach, der bei SMS als Industriemeister gearbeitet hat, nicht bei der Pflege seiner Frau. Während Natali Herrmann die Patientin versorgt, erzählt er dem Besucher in der Küche von seinem Alltag: wie er sich um seine Frau kümmert, den Haushalt versorgt, die eigenen Handicaps bewältigt — weil die Augen nicht mehr mitmachen, fährt er nicht mehr Auto. Den Garten am Hang über dem Eigenheim oben am Waldrand hat er pflegeleicht gemacht, die Bienenvölker brauchen ihn in dieser Jahreszeit auch nicht mehr. „Ich bin sehr dankbar, dass ich das noch alles kann“, sagt er. Und dass er Hilfe hat. Womit er die Unterstützung meint, die er sich dazukaufen kann. Die von Sohn und Schwiegertochter. Und, das ist ihm wichtig, „Gottes Hilfe.“

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Natali Herrmann hat ihre Arbeit getan, Frau Achenbach ist bereit für diesen neuen Tag. Erwin Achenbach kommt mit bis zur Tür. Natali Herrmann muss weiter. „Passen Sie auf sich auf“, bittet sie den Hausherrn. Und meint das auch so. Die Sonne ist an diesem frostigen Morgen aufgegangen, der Himmel ist tiefblau. Was denn wäre, wenn diese Familie die Unterstützung des Pflegedienstes nicht hätte? Wenn sie zu denen gehört hätte, die weder beim Abendfrieden noch bei einem anderen Anbieter angenommen worden wäre? „Es ist tragisch, wenn man darüber nachdenkt“, sagt Natali Herrmann. 40 Minuten hat der Einsatz bei den Achenbachs gedauert. „Alles gut.“

Kritk: Hausärztlicher Notdienst ist viel zu weit weg

Sie wartet, nur ein paar Straßen weiter in einem Laubenganghaus, das die SMS für ihre Mitarbeiter gebaut hat. Christa Hackler und ihr inzwischen verstorbener Ehemann haben schon 1986 das eigene Haus gegen die Wohnung getauscht, damit der Sohn und seine junge Familie mehr Platz haben.

Es ist gleich 8 Uhr, Christa Hackler geht mit der Pflegerin ins Badezimmer. Als sie wiederkommt, spricht sie über ihren Tag.

„Ich gehe gleich in die Tagespflege.“ Frühstück, Mittagessen, Kaffeetrinken und die Zeit dazwischen in Gesellschaft ist eine Alternative zu einem Tag allein, an dem womöglich gar nichts passiert. „Voriges Jahr bin ich noch Auto gefahren“, erzählt die 87-Jährige, „ich habe das freiwillig aufgegeben.“ Und damit einem Enkel einen großen Gefallen getan, der nun vorfahren kann, wenn die Großmutter ihn braucht. Den Pflegedienst nimmt sie erst seit ein paar Monaten in Anspruch. Nein, für die Zeitung fotografieren lassen möchte sich Christa Hackler nicht. Dafür aber etwas loswerden: Das mit dem hausärztlichen Notdienst, der so weit weg ist und so lange braucht, dass die Leute stattdessen lieber den Rettungswagen rufen und für andere blockieren: „Das muss unbedingt geändert werden.“

Pflegekräfte sind knapp: Patientenverträge mussten gekündigt werden

Jetzt geht es zurück in die Dammstraße: dokumentieren, Medikamente stellen, also die verschiedenen Tabletten für die nächsten Tage für jeden Patienten nach Verordnung vorbereiten, „immer im Vier-Augen-Prinzip“. Danach dann Mittagseinsätze, meist für die Versorgung mit Insulin oder anderen Arzneien. Je nach Dienstplan kann der weitere Tag aber auch frei sein, bis zur Abendtour von etwa 17 bis etwa 21 Uhr.

Daniela Meißner leitet in der Mobilen Altenpflege ein Team von 24 Kräften: examinierte Altenpflegerinnen, Pflegehelferinnen, Arzthelferinnen, Hauswirtschaftskräfte. 60 Patienten werden derzeit mobil versorgt. „Wir sind ganz schön runtergefahren.“ Als Mitarbeiterinnen ausfielen und Ersatz nicht zu bekommen war, wurden sogar Verträge mit Patienten gekündigt.

Der Alltag im Büro des Pflegedienstes: Auseinandersetzungen mit Versicherungen um Kostenübernahmen. „Immer auf Kosten der Betroffenen.“ Der Anruf aus dem Krankenhaus: Die Sozialarbeiterin sucht einen Pflegedienst für einen Patienten, der entlassen werden soll. Dazu immer der Blick auf den Sinn des Ganzen: Nämlich den Menschen zu ermöglichen, dass sie zu Hause leben können. „Und auch zu Hause sterben, wenn sie den Wunsch haben“, sagt Daniela Meißner. Dahinter tritt der ganze Katalog an getakteten Vorgaben zurück. „Wenn wir sehen, dass es an einem Tag jemandem nicht gut geht, fahren wir einfach noch mal hin.“

Prämien für Vermittlung von Pflegekräften

Im Schnitt 175 Tage, hat Natalie Herrmann gelesen, bleibt eine ausgeschriebene Stelle in der Altenpflege frei, bis sie endlich besetzt werden kann. Mancher Arbeitgeber tut eine Menge, um diesen Zeitraum zu verkürzen. Im Krankenhaus ist eine Kollegin angesprochen worden, als sie als Patientin auf Station lag: Ob sie nicht selbst hier anfangen wolle? Beim „Abendfrieden“ kursiert der Zettel aus dem Marienkrankenhaus: „Mitarbeiter werden Mitarbeiter“ ist ein Prämienkatalog mit bis zu 1000 Euro für jede neu vermittelte Kraft, die die Probezeit besteht.

Abschied. Morgen ist kein Reporter mehr dabei. Natali Herrmann sieht ihre Patienten wieder, manche noch viele, lange Jahre. Weil sie das will. Und nicht, wie sie es formuliert, „den ganzen Tag Haare schneiden.“ Ihre Tochter hat den Umweg gar nicht erst gemacht. Sie ist direkt examinierte Altenpflegerin geworden.