Bad Fredeburg. Nataliia Pryliepska ist nach Bad Fredeburg geflüchtet. Wie sie mit der Angst, dass ihr Mann oder ihr Sohn im Krieg sterben, lebt.
Nataliia Pryliepska lebt seit eineinhalb Jahren in Bad Fredeburg. Sie ist geflohen, als in ihrer Heimat der Krieg ausbrach. Mittlerweile hat sie eine eigene Wohnung, sie arbeitet, ihre Tochter besucht das Gymnasium in Schmallenberg. Im Kopf ist die 48-Jährige aber immer noch nicht in Deutschland angekommen. Sie hat Zukunftsängste und sie wacht jeden Morgen mit der beklemmenden Frage auf, ob ihr Sohn und ihr Mann noch leben.
Ihr Mann Oleksandr ist angestellter Landwirt, ihr Sohn Evgen (23) ist im Rettungsdienst und in Gebieten unterwegs, in denen er Menschen aus Trümmern bergen muss. Er erlebt Schreckliches. Beide wollen und dürfen die Ukraine nicht verlassen. Auch deshalb zieht es Nataliia Pryliepska mit dem Herzen zurück in ihre Heimat. Ob das irgendwann überhaupt möglich sein wird, weiß sie nicht. Und sie weiß eben auch, dass dort nichts mehr so ist, wie es mal war.
Die gelernte Podologin hat mit ihrer Familie in Sewerodonezk bei Luhansk gelebt, hatte dort eine eigene Praxis. Auch Charkiw ist nicht weit. Die Region grenzt direkt an Russland und wurde bereits 2014 zum ersten Mal bombardiert. Damals war ihre Tochter Lisa noch im Kindergarten. „Wir mussten den Kindern immer einen Rucksack für eine mögliche Evakuierung mitgeben“, erinnert sie sich mit erschöpftem Blick. Auch einen Zettel mit Kontaktdaten der Eltern sollte Lisa immer mit sich tragen - falls Kind und Eltern sich wiederfinden müssen bzw. falls das Kind stirbt und die Eltern benachrichtigt werden müssen.
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Sirenen gehörten irgendwann zum Alltag. „Ich hatte jeden Tag Angst, dass etwas passieren könnte“, erzählt Nataliia Pryliepska. „Aber man hat keine andere Wahl, man lernt, damit zu leben.“ Sie haben weiter gearbeitet - immer in dem guten Glauben „Mir passiert schon nichts“ - waren aber zu allem bereit.
Die ersten Vorzeichen im Februar 2022 haben sie zwar wahrgenommen, aber immer noch versucht, positiv zu denken: „Das ist weit weg. Das wird sich regeln.“ Als aber am 24. Februar 2022 plötzlich Strom und Internet ausfielen, da setzte die Angst ein, da wurde Nataliia Pryliepska und ihrer Familie bewusst, dass es ernst wird. Mehr und mehr Militär kam in die Stadt, die ersten Häuser wurden getroffen. Der Krieg kam immer näher.
„Am 8. März 2022 schlug eine Bombe im Nachbarhaus ein und alle Fensterscheiben in unserer Wohnung zersprangen.“ Ein paar Tage haben sie noch in der Podologie-Praxis gewohnt. Als die Evakuierung fast schon beendet war, am 13. März 2022 - und nur mit gutem Zureden ihres Mannes - fassten Mutter und Tochter spontan den Entschluss. Alles musste schnell gehen. Sie sind aufgebrochen ins Ungewisse; haben Familie und Freunde zurückgelassen; keiner wusste, wo sie landen. An die Flucht mit ihrer damals 13 Jahre alten Tochter Lisa erinnert sich die 48-Jährige noch genau: Mit 20 Personen standen sie 36 Stunden lang in einem kleinen Zugabteil. Das Lächelwerk-Team hat sie in Polen eingesammelt und nach Bad Fredeburg gebracht. Dafür sind sie heute immer noch dankbar. Auch für die große Hilfsbereitschaft, die sie in Bad Fredeburg erfahren haben.
Mit dem Google-Übersetzer hat Nataliia Pryliepska Bewerbungen geschrieben. Mittlerweile hat sie eine eigene Wohnung und arbeitet im VdK-Hotel. Dort habe die Familie Welter sie sehr offen empfangen und viel Geduld gehabt, ihr alles zu erklären. Zu Anfang mit Händen und Füßen, ihr Deutsch wird aber immer besser. In ihrem erlernten Beruf als Podologin darf die 48-Jährige in Deutschland leider nicht arbeiten. Weil sie das aber mit Herzblut macht, arbeitet sie nun außerdem stundenweise in Schmallenberg in dem neuen Kosmetikstudio „Nelly Cosmetics“ in der Weststraße und übernimmt dort Maniküre und Pediküre, also kosmetische Behandlungen.
„Damals hatte ich nicht daran gedacht, dass ich so lange bleiben würde“, sagt die Ukrainerin im Rückblick. In Deutschland hat sich die vierfache Mutter in der kurzen Zeit etwas aufgebaut - dennoch fehlt ihr die Perspektive. Ihre zwei erwachsenen Töchter leben in Russland - der Liebe wegen. Von Deutschland aus kann sie mit ihnen Kontakt halten. „Das ist ein großer Vorteil“, weiß Nataliia Pryliepska. Würde sie zurück in die Ukraine gehen, wäre das vermutlich nicht mehr möglich. Sie fühlt sich hin- und hergerissen: „Bleiben wir für immer in Deutschland? Dürfen wir überhaupt bleiben?“ Auch das sind Fragen, die sie und ihre Tochter belasten. Deshalb macht Lisa bis jetzt zwei Schulen parallel - die deutsche in Schmallenberg und die ukrainische via Internet.
Eine traurige Nachricht
Mit ihrem Mann hält Nataliia Pryliepska jeden Tag Kontakt. Zuletzt überbrachte er ihr die traurige Nachricht, dass ihre Cousine von einer Bombe getroffen und tödlich verletzt wurde. „Es kann jeden Tag etwas passieren, das begleitet mich ständig.“ Von ihrem Sohn hört sich oft tage- und sogar wochenlang nichts, weil er dann keinen Handyempfang hat.
Sich mit Arbeit abzulenken, hilft ihr. „Ohne Arbeit wäre es für mich unmöglich, mit diesen Gedanken zu leben.“ Psychologische Hilfe nimmt die 48-Jährige nicht in Anspruch. Sie ist fest entschlossen, positiv zu denken und die Hoffnung nicht zu verlieren.