Meschede. Abnehmspritzen werden auch im Klinikum Hochsauerland verschrieben. Was man dazu wissen muss, erklärt der Ärztliche Direktor.

Eine Spritze pro Woche und schon purzeln die Pfunde. Was sich auf den ersten Blick leicht und einfach anhört, muss wohl überlegt sein. Die so genannte „Abnehmspritze“ Wegovy ist seit diesem Sommer im Handel erhältlich. Dr. Norbert Peters, Ärztlicher Direktor des Klinikums Hochsauerland, Gynäkologe und Ernährungsmediziner, behandelt seine Patientinnen und Patienten aus dem Sauerland bereits mit den neuen Medikamenten. Im Interview erklärt er, für wen sie in Frage kommt und worauf alle anderen achten sollten.

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Dr. med. Norbert Peters, Ärztlicher Direktor der Arnsberger Standorte des Klinikums Hochsauerland
Dr. med. Norbert Peters, Ärztlicher Direktor der Arnsberger Standorte des Klinikums Hochsauerland © WP | Klinikum Hochsauerland

Ozempic und Wegovy, beide mit dem Wirkstoff Semaglutid, gelten als so genannte Abnehmspritzen. Ist das in Ihrer Sprechstunde ein Thema?

Ja, ein großes Thema. Ich werde oft darauf angesprochen.

Wer erhält sie von Ihnen?

Ich halte mich da natürlich an die Empfehlungen der Deutschen Adipositas-Gesellschaft: Wegovy sollte nur Erwachsenen mit Adipositas - also einem Body-Mass-Index (BMI) über 30 - in Kombination mit einer Diät und körperlicher Aktivität verordnet werden sowie Erwachsenen mit Übergewicht (BMI über 27) und damit verbundenen Gesundheitsproblemen wie Typ-2-Diabetes oder Bluthochdruck. Für Jugendliche ab 12 Jahren mit einem Gewicht über 60 Kilogramm ist sie noch nicht zugelassen, wird aber empfohlen.

Sie empfehlen die Spritze?

In begründeten Fällen: Auf jeden Fall! Sie wird nur einmal pro Woche gespritzt und hat überschaubare Nebenwirkungen, wie Verstopfung und gelegentlich Übelkeit und Bauchschmerzen. Eine Studie beschrieb – allerdings nur bei wenigen Probanden - suizidale Gedanken. Bei der Risikobewertung muss man berücksichtigen: Die Patienten verlieren 15 bis 20 Prozent ihres Körpergewichts pro Behandlungsjahr. Ohne Therapie können die die Folgen der Adipositas verheerend sein: Es drohen Diabetes, Hüft- und Kniegelenksschäden, Arteriosklerose, Herzinfarkte und Schlaganfälle. Das sind Folgewirkungen, die nicht rückgängig zu machen sind.

Noch werden die Kosten von 300 bis 400 Euro im Monat von den Krankenkassen in Deutschland aber nicht übernommen?

Nein, aber ich denke, das wird kommen. Denn die Kosten von Adipositas sind zu gravierend. Man geht in Deutschland von jährlich 30 Milliarden Euro direkter Behandlungskosten durch Übergewichtsvermittelten Erkrankungen, vor allem Diabetes, aus. Dazu kommen noch einmal 30 Milliarden Euro indirekter Kosten, weil adipöse Menschen häufiger arbeitsunfähig sind und früher in Rente gehen. Da ist die Spritze also deutlich günstiger.

Nicht alle Apotheker geben die privat verordneten Spritzen heraus, weil die Mittel eigentlich Diabetes-Medikamente sind. Angeblich wird der Wirkstoff auf dem Markt schon knapp. Für Diabetiker sind sie aber lebensnotwendig.

Ich habe bisher bei der Beschaffung keine Probleme gehabt. Ich frage in der Apotheke nach, ob das Medikament vorhanden ist und bitte darum, es für den Patienten zurückzulegen. Das Problem, das dahinter steckt, ist, dass auch diese Medikamente - wie so viele Arzneimittel - nicht mehr in Deutschland hergestellt werden. Die weltweiten Lieferketten-Problematiken sorgen so für eine Verknappung.

Verschiedene Packungen des Abnehmmittels „Wegovy
Verschiedene Packungen des Abnehmmittels „Wegovy" des Pharmakonzerns Novo Nordisk liegen in einer dänischen Apotheke auf dem Verkaufstresen. © dpa | Steffen Trumpf

Kritisiert wird auch, dass es in den USA privat verschrieben als Lifestyle-Mittel genutzt wird. Frauen, die nur wenige Kilos abnehmen wollen und gar nicht übergewichtig sind, nutzen es, um ihr persönliches Traumgewicht zu erreichen.

Wer nur wenige Kilos abnehmen will, für den ist die Spritze Unsinn. Hier reichen schon etwas gesündere Ernährung, weniger Alkohol und etwas mehr Bewegung. Aber bei hochgradigem Übergewicht ist sie klar begründbar und hat auch sehr schöne Erfolge. Die Menschen sind glücklich.

Aber müssten Menschen, die so viele Kilos Übergewicht haben, nicht erstmal Sport machen und weniger essen, bevor eine solche Spritze zum Einsatz kommt?

Die Vorwurfshaltung „selbst schuld“ Adipösen gegenüber ist leider weit verbreitet. Dabei handelt es sich oft nur um kleine Ernährungsfehler – aber eben über viele Jahre. Ein Beispiel: ein Mann, der heute bei einer Größe von 1,85 Meter 115 Kilo wiegt, hat einen BMI von 33,6 und damit hohes Übergewicht. Wenn dieses Gewicht in den vergangenen 35 Jahren zustande gekommen ist, entspricht das einem Ernährungsfehler von nur drei Gramm Zucker am Tag zuviel. Oftmals haben Adipöse auch schon alles versucht, um das Gewicht über Diäten und mehr Sport in den Griff zu bekommen. Da hilft die Spritze, den ersten Schritt zu tun, gleichzeitig muss der Patient die Ernährung umstellen und sich mehr bewegen. Aber Sport ist meist erst möglich, wenn man weniger wiegt.

Auch Kinder müssen schon lernen, ihr Gewicht zu kontrollieren. Besuch einer Sportgruppe für übergewichtige Kinder in der Kinderklinik in Dattel.
Auch Kinder müssen schon lernen, ihr Gewicht zu kontrollieren. Besuch einer Sportgruppe für übergewichtige Kinder in der Kinderklinik in Dattel. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann Funke Foto Services

Übergewicht ist ein großes gesellschaftliches Problem. Wo fängt es an?

Grundsätzlich entsteht es aus einem Missverhältnis von Kalorienzufuhr und Kalorienverbrauch, also Ernährung und Bewegung. Wir sitzen bei der Arbeit, fahren im Auto zum Einkaufen, hocken in der Freizeit am Handy und vor dem PC und ernähren uns, als würden wir schwer körperlich arbeiten. Ab einem BMI von 25 fängt Übergewicht an. Besser noch lässt sich das über den Bauchumfang sehen. Laut Adipositas-Leitlinie ist bei Männern ein Umfang ab 94 cm und bei Frauen ab 80 cm mit einem erhöhten Gesundheitsrisiko verbunden. Bei einem Bauchumfang ab 102 cm bei Männern und ab 88 cm bei Frauen spricht man von einem deutlich erhöhten Risiko.

Mit dem Maßband den Bauchumfang zu messen, gibt wichtige Erkenntnisse: Laut Adipositas-Leitlinie ist bei Männern ein Umfang ab 94 cm und bei Frauen ab 80 cm mit einem erhöhten Gesundheitsrisiko verbunden.
Mit dem Maßband den Bauchumfang zu messen, gibt wichtige Erkenntnisse: Laut Adipositas-Leitlinie ist bei Männern ein Umfang ab 94 cm und bei Frauen ab 80 cm mit einem erhöhten Gesundheitsrisiko verbunden. © WAZ FotoPool | Johannes Kruck

Sie sagen, auch die Lebensmittelindustrie trägt Mitschuld?

Ja, zumindest könnte sie gegensteuern. Es gibt zu viele versteckte Zucker-Fett-Verbindungen in der Nahrung. Das müsste eigentlich deutlich deklariert werden – als Warnhinweis analog zu denen auf Zigarettenpackungen. Gefährlich sind auch Getränke. Ein Liter Orangensaft enthält bis zu 170 Gramm Zucker, das entspricht ca. 55 Stück Würfelzucker! Ein Liter Milch hat 640 Kalorien - das ist eine Mahlzeit, kein Getränk. Ein Big-Mac-Gericht mit großer Portion Pommes und 0.5 Liter Cola enthält 1300 Kalorien, das deckt für viele Menschen schon den täglichen Grundbedarf.

Und dazu kommen weitere Fehler?

Ja, Sätze wie „Der Teller wird aufgegessen!“ stammen noch aus Kriegs- und Hungerzeiten. Die Menschen essen zu unregelmäßig und zu viel Fast- und Junk-Food, sie unterschätzen den Jojo-Effekt von Diäten. Wer nimmt schon freiwillig eine Treppe, wenn daneben ein Aufzug fährt? Besonders Menschen in prekären Lebenssituationen wissen viel zu wenig über gesunde Ernährung und ernähren sich und ihre Kinder entsprechend schlecht. Eltern haben aus meiner Sicht die Pflicht, für ihre Kinder gesund zu kochen und Kinder haben die Pflicht, sich zu bewegen. In diesem Zusammenhang empfinde ich es als geradezu grotesk, dass bei den Bundesjugendspielen der Leistungsgedanke abgeschafft werden soll.