Meschede. Putin verfeuert die Reservisten als Kanonenfutter, sagt Prof. Patrick Sensburg, Sauerländer und Präsident des Reservistenverbandes.

Russland verkündet die Teilmobilmachung, ein Referendum in der Ukraine und droht mit Atomwaffen - ist das eine weitere Eskalation des Krieges? Der Sauerländer Militärexperte und Präsident des Reservistenverbandes, Professor Patrick Sensburg aus Brilon, ordnet das Geschehen ein.

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Teilmobilmachung? Was bedeutet das und wäre so etwas auch in Deutschland möglich?

Patrick Sensburg: Nein, das lässt sich nicht vergleichen. Mit der Teilmobilmachung werden in Russland die Reservisten angesprochen, die einen Vertrag mit dem Staat haben. In Etappen sollen die gezogen werden, die bereits ausgebildet sind. Angeblich rund 300.000 Männer, bei der genauen Zahl bleiben alle, die sich bisher geäußert haben nebulös. Aus gutem Grund, man will sich nicht in die Karten blicken lassen. Ich halte das nicht für den großen Wurf und die genannte Zahl für vollkommen illusorisch.

Warum, was steckt dahinter?

Mit 200.000 Soldaten ist Russland am 24. Februar in den Krieg gegen die Ukraine gezogen. Aber davon gehört ja nur rund ein Drittel zur kämpfenden Truppe. Daneben braucht ein Heer Sanitäter und Logistiker, nur rund 60.000 Soldaten kämpfen wirklich. Und diese kann man nicht dauerhaft im Einsatz lassen, sie brauchen nach zwei bis drei Wochen Erholung. Dazu gab und gibt es Verluste, Überläufe und Gefangennahmen. Soldat in Russland, das ist ein Business, die Zeitverträge laufen jetzt im Winter aus. Deshalb hat Putin auch einen solchen Druck, neue Kämpfer zu rekrutieren. Aber warum sollten die bereit stehen? Sie hätten sich ja auch schon vorher melden können. Doch dieser Bruderkrieg, geführt mit schlechter Ausstattung und schlechter Versorgung, ist auch unter den russischen Soldaten stark umstritten.

„Jetzt kommt der Winter, da werden Menschen erfrieren“

Wie lange dauert es, bis so ein Reservist aus der Teilmobilmachung überhaupt einsatzfähig ist?

Vier bis sechs Wochen dauert allein das Logistische, von der Aufforderung bis zum Einkleiden und dann sind die Soldaten ja noch nicht gut ausgebildet. Das ist - nach der Rekrutierung von Gefangenen - der zweite menschenverachtende Versuch, Masse zu generieren. Letztlich Kanonenfutter. Und jetzt kommt der Winter.

Welche Rolle spielt der?

Die Gegend an der russischen Grenze, in der aktuell gekämpft wird, ist sehr ländlich, hat kaum Infrastruktur. Die Soldaten haben sich in einem Stellungskrieg eingegraben, Landgewinne sind kaum möglich. Mit dem Herbst und im Winter wird es in dem sumpfigen Gelände feucht, morastig und dann kalt. Die russischen Soldaten sind ein leichtes Ziel für Partisanen, die ihre Heimat verteidigen, sich gut auskennen und dem Feind immer wieder Nadelstiche versetzen können. Dort Kämpfer auszutauschen ist außerdem extrem gefährlich, ganz abgesehen davon, dass die militärisch nicht gut ausgebildeten Reservisten dort wahrscheinlich gar keine Hilfe sind. Ich denke, es werden auch Menschen erfrieren.

Das Bild zeigt Reservisten, die mit der Fliegerfaust
Das Bild zeigt Reservisten, die mit der Fliegerfaust "Strela" üben. Eine Teilmobilmachung, wie jetzt in Russland kennt Deutschland nicht. Wenn es soweit wäre, fielen Bomben auf Arnsberg und Meschede, sagt Patrick Sensburg und dann würden alle kämpfen. © dpa | Michael Mandt

Russland schafft es nicht die Lufthoheit zu gewinnen?

Marine und Luftwaffe sind eigentlich überlegen, aber nicht effektiv einsetzbar. Was soll passieren, außer dass Putin weiter Städte bombardiert und Menschen tötet? Landgewinne macht er so auch nicht. Und die Ukrainer setzen die Luftabwehrraketen mittlerweile effektiv ein.


„Wenn wir eine Teilmobilmachung hätten, dann geht es nicht nur um Reservisten“

Kennt Deutschland eigentlich auch diesen Begriff der Teilmobilmachung für Reservisten, wie ihn jetzt Russland verwendet?

Nein, das gibt es bei uns nur im Spannungs- und Verteidigungsfall. Und wenn es soweit wäre, dann hätten wir hier ein gesamtgesellschaftliches Problem, dann geht es nicht nur um Reservisten, dann würde in unserem ganzen Land gekämpft und selbst THW und Feuerwehren wären im Einsatz. Dann würden bei uns alle kämpfen – dann wäre Krieg auch bei uns. Da sind wir aber zum Glück weit von entfernt. Anders als in Russland herrscht vorher bei uns Freiwilligkeit. Reservisten können sich freiwillig für Auslandseinsätze, wie beispielsweise in Mali melden, und rund 200 sind zurzeit auch in den Einsätzen.

„Putin versucht seine Macht zu erhalten - mit Blut“

Aber trotzdem bedeutet das eine weitere Eskalation des Krieges?

Dieser Krieg ist schon maximal eskaliert. Putin versucht seine Macht zu erhalten - mit Blut.

Und die Drohung mit der Atombombe?

Das wäre die atomare Steigerung. Aber das will niemand, auch Putin nicht. Wo will er Atombomben abwerfen? Auf seine eigenen Leute - im Donbass - an der russischen Grenze? Auf Kiew oder gar auf Nato-Gebiet? Das wäre totaler Irrsinn.

„Die Atombombe zu werfen, das wäre totaler Irrsinn“

Bei einem positiven Referendum könnte er behaupten, dass jetzt der Krieg auf russischem Territorium stattfindet, Russland also angegriffen wird.

Ja, aber das glaubt ihm doch niemand. Das ist ein Propagandatrick. Völkerrechtlich würde das sowieso niemand anerkennen. Aber auch die russische Bevölkerung hat Atlanten und weiß, dass dieser Teil der Ukraine nicht russisch ist und nie war. Es gibt viele verwandtschaftliche Beziehungen. Wir sollten die Russen nicht unterschätzen. Sie schweigen, ja - geschwiegen haben die Deutschen im Zweiten Weltkrieg auch. Aber auch die Bevölkerung auf den Dörfern weiß, dass da nicht der „Große Vaterländische Krieg“ gegen Nazis in der Ukraine geführt wird. Man sollte die Menschen nicht für dumm verkaufen.

Das Archivbild zeigt russische Soldaten, die anlässlich der  Militärparade zum
Das Archivbild zeigt russische Soldaten, die anlässlich der Militärparade zum "Tag des Sieges" durch Moskau marschieren. © dpa | Alexander Zemlianichenko

Merken Sie dass dieser Krieg sich auch auf die Reservisten in Deutschland auswirkt?

Oh, ja. Viele kümmern sich persönlich um Ukrainer, die nach Deutschland geflüchtet sind. Und er hat große Auswirkungen auf die weitere Entwicklung der Bundeswehr. Aktuell haben wir 200.000 aktive Soldaten und 100.000 Reservisten. Diese werden jetzt nach und nach in fünf Heimatschutzregimentern organisiert. Das erste ist schon in Bayern eingerichtet und jetzt folgt gerade die Aufstellung des zweiten Heimatschutzregiments in Nordrhein-Westfalen mit Sitz in Münster. Ohne Reserve geht es in der Landesverteidigung nicht und Deutschland macht hier gerade die notwendigen Schritte.