Freienohl. Seit 2001 belästigt die heute 79-Jährige den Pfarrer im Mescheder Ortsteil Freienohl. Das Landgericht Arnsberg urteilt jetzt über das Stalking.
Eine 79-Jährige zeigt der Justiz ihre Grenzen auf: Die Stalkerin, die seit 21 Jahren den Freienohler Pfarrer Michael Hammerschmidt belästigt, ist vom Arnsberger Landgericht freigesprochen worden. Die 3. Kleine Strafkammer sieht die Frau als schuldunfähig an. Sie kann im Grunde weitermachen, eine Strafe droht ihr nicht.
Pfarrer sagt: „Als Opfer bist du der Doofe in Deutschland“
Die Arnsberger Richter haben damit ein Urteil des Mescheder Amtsgerichtes von 2019 aufgehoben, in dem die Frau erstmals als schuldfähig eingestuft worden war und zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde. Die Frau bleibt jetzt weiter in Freiheit – obwohl ihre Belästigungen weitergehen. Pfarrer Hammerschmidt berichtete vor Gericht noch von einem Vorfall am Vorabend. Er muss jetzt davon ausgehen, dass diese Belästigungen weiter anhalten werden – und straffrei bleiben. Denn auch die Staatsanwaltschaft sieht die Stalkerin trotz der erwiesenen Nachstellungen als schuldunfähig an. Pfarrer Hammerschmidt sagte verbittert: „Das ist ein Skandal. Als Opfer bist du der Doofe in Deutschland.“
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Die Frau aus Freienohl hatte ausgerechnet an ihrem Verhandlungstag ihren 79. Geburtstag. Sie erschien wieder modisch schick vor Gericht, ihr Gesicht verborgen unter einem Hut.
Vorsitzender Richter Klaus-Peter Teipel musste sie auffordern, auf der Anklagebank den Hut vom Kopf im Prozess abzusetzen, um sie sehen zu können. Danach hielt sie eine Mütze immer so an ihre Gesichtsseite, dass sie aus dem Zuschauerraum möglichst nicht zu erkennen war.
Konkret angeklagt waren Vorfälle aus den Jahren 2017 und 2018, als sich die Frau vor dem Pfarrer entblößt, seinen Garten mit sexuellen Anspielungen dekoriert hatte. Die Belästigungen aber reichen bis ins Jahr 2001 zurück – bei Hammerschmidt, der alles immer dokumentiert hat, füllen sie vier Aktenordner. Immer noch lauere die Frau ihm auf.
Auslöser: Ein Vorfall am Sterbebett
Hintergrund aller Vorfälle und Auslöser: Hammerschmidt war 2001 an das Totenbett des Vaters der Frau gerufen worden – und erlebte die damals 58 Jahre alte Frau, wie sie an ihrem Vater rüttelte, und rief „Sag es! Sag es!“ Hammerschmidt fragte nachher, was das denn sollte – und erfuhr dann vom sexuellen Missbrauch durch den Vater. Der psychiatrische Gutachter Prof. Dr. Norbert Leygraf (Münster) bestätigte vor Gericht aus Untersuchungen: Die Frau sei im Alter von 8 bis 18 Jahren vom Vater sexuell missbraucht worden – erstmals sprach sie darüber am Sterbebett gegenüber dem Pfarrer davon. Und in und aus dieser Situation entwickelte die Frau „eindeutig“, so Leygraf, ihre Sympathie für den Pfarrer – die dann allerdings zu einer wahnhaften Störung wurde.
Norbert Leygraf ist der führende deutsche psychiatrische Experte zu Wahn-Vorstellungen. Er zerriss im Grunde in seinem Gutachten über die Frau wiederum das Gutachten, auf das sich das Mescheder Amtsgericht bei seiner Verurteilung berufen hatte. Dr. Josef Leßmann, langjähriger Klinik-Chef der Psychiatrie in Warstein, hatte die Frau darin als schuldfähig eingestuft: Leßmann erkannte eine „histrionische Persönlichkeitsstörung“ – die Frau liebe im Grunde den großen Auftritt, brauche Bewunderung und suche eine Bühne für sich.
Frau betrachtet Geistlichen als „Seelenzwilling“
Mitnichten sei das aber der Fall, so Leygraf. 40 Jahre lang habe die Frau normal gelebt, sei verheiratet gewesen, arbeitete: Erst mit 58 dann plötzlich die Wende an Vaters Sterbebett. „Man erkrankt aber nicht plötzlich an einer Persönlichkeitsstörung“, so Leygraf.
Die begleitet einen das Leben über. Untersuchungen ergaben Durchblutungsstörungen im Gehirn der Frau, dadurch sei die Impulskontrolle gestört. Dazu komme eine „wahnhafte Störung in Form eines Liebeswahns“: Die Frau habe den verrückten Wahn, auch der Pfarrer sei in sie verliebt – dürfe dies aber als katholischer Pfarrer nicht zeigen. Leygraf sagte: „Sie ist von einer besonderen Beziehung überzeugt.“ Sie selbst spreche von Hammerschmidt als ihrem „Seelenzwilling“ und von einer „übersinnlichen Beziehung“. Er sagte: „Solche Wahnvorstellungen hat man einmal, die bleiben ewig.“
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Hammerschmidt schüttelte den Kopf, kritisierte auch den Gutachter. Er ist überzeugt: „Die Frau weiß genau, was sie tut. Die veräppelt die ganze Welt. Die ist besessen.“ Auch sein Bruder als Zeuge sagte aus: „Es wird das Bild einer armen, hinfälligen Dame gezeichnet. Das nehme ich ihr einfach nicht ab.“ Er berichtete von „massiven Auswirkungen“ durch die Belästigungen auf seinen Bruder und sein familiäres Umfeld: „Unsere Mutter hat unsäglich darunter gelitten.“
Keine Einweisung in Psychiatrie
Rechtsanwalt Michael Babilon (Arnsberg) bezeichnete sowohl seine Mandantin als auch den Pfarrer als Opfer. Er erinnerte aber daran, dass die Frau drei Jahre in der Psychiatrie und auch in Untersuchungshaft war – danach höre man doch eigentlich auf: „Sie kann es aber nicht!“ Auch Oberstaatsanwalt Marco Kalin schloss sich Gutachter Leygraf an – das Gutachten sei „überzeugend“. Die Aufmerksamkeit, die die Frau erreichen will, richte sich ausschließlich auf den Pfarrer: „Das ist ein klassischer Liebeswahn.“
Natürlich sei das „völliger Unsinn“: „Ein normaler Mensch hätte das verstanden. Die Angeklagte kann es aber nicht verstehen. Das ist ihre Erkrankung. Sie glaubt, sie tut ihm etwas Gutes.“ Zu bestrafen aber sei nur, wer schuldfähig sei. Zwangsweise in die Psychiatrie eingewiesen werden könne die Frau nicht, machte er klar: Das sei nur bei schweren Straftaten vertretbar – dafür aber reichen die Belästigungen hier nicht aus.
„Es gibt Dinge, die kann man nur schwerlich begreifen“, sagte Richter Klaus-Peter Teipel in seinem Urteil. „Uneingeschränkt“ folge man dem Gutachter. Ausdrücklich wendete er sich an den Pfarrer: „Die Kammer bedauert ausdrücklich Ihre Situation außerordentlich.“ Hammerschmidt sei in seiner Lebensqualität, seiner Gesundheit und Lebensgestaltung „massiv beeinträchtigt“. Aber: „Wer schuldunfähig ist, der kann nicht bestraft werden. Wir können die Angeklagte nicht bestrafen.“ Die einzige Hoffnung, die auch der Gutachter hat: Die Belästigungen würden durch das zunehmende Alter „an Elan und Intensität nachlassen“.