Meschede. Auffallend häufig treffen die Pocken Städte in Westfalen - wie Meschede. Das hat Gründe. Schnell vergessen wird, welche Gefahr die Pocken waren.

Die Menschen haben ein kurzes Gedächtnis. Der Pockenausbruch 1970 in Meschede ruft wieder vor Augen, wie lebensgefährlich diese Krankheit ist – und die damals eben noch nicht ausgerottet ist. Obwohl die Pocken gerade Westfalen doch immer wieder treffen. Hier ist die Spurensuche eines medizinischen Krimis.

1962 die Pocken in der Eifel

Der Hartmannbund Westfalen-Lippe, der Berufsverband der Ärzte, spricht im Frühjahr 1970 nach dem Ausbruch in Meschede auch von „Variola guestphalienses“ – das ist lateinisch für „westfälische Pocken“. Denn Westfalen und insbesondere der Regierungsbezirk Arnsberg leiden immer besonders unter den Pocken (oder den Blattern, wie sie auch genannt werden): Begünstigt werden die Ausbrüche in der Vergangenheit durch die Fluktuation in der Arbeiterschaft, schlechte hygienische Bedingungen und überhaupt dem engen Zusammenleben der Menschen.

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Vor Meschede ereignet sich 1962 der letzte größere Ausbruch in NRW. 42 Menschen in Monschau, Düsseldorf und Simmerath erkranken, 753 kommen in Quarantäne, ein Patient stirbt.

Die erste Meldung in der Westfalenpost am 16. Januar 1970 zum Ausbruch der Pocken.
Die erste Meldung in der Westfalenpost am 16. Januar 1970 zum Ausbruch der Pocken. © Jürgen Kortmann

Das Bundesgesundheitsamt in Berlin führt die Häufung der Pocken in NRW auf die große Anzahl von Firmen zurück, die Mitarbeiter für Aufträge in Länder schicken, in denen die Krankheit noch existiert. So auch in diesem Fall: Eine Neunjährige erkrankt an den Pocken, die ihr Vater aus Indien eingeschleppt hatte. Belgien schließt seine Grenze zur Eifel.

Auch in der Eifel, spielt, wie später in Meschede, ein Luftzug eine wichtige Rolle: Die Pocken übertragen sich über einen Flur von einer Isolierstation – es ist noch nicht bekannt, dass sich Pockenviren auch über eine Strecke von mehr als 20 Metern durch Luftströme übertragen lassen. Sporadisch treffen die Pocken danach noch Deutschland: 1965 zwei Erkrankungen in Kulmbach in Bayern, 1967 durch Einschleppung ein Fall in Hannover, zwei in Regensburg. Dann kommt Meschede...

Millionen Tote

Als weitgehend gebannt gelten die Pocken in Deutschland erst seit 1924/25. Zuvor gibt es in Deutschland so genannte autochthone, also eingesessene, Pockenherde – die zu tausenden Erkrankten mit hunderten Toten führen: 1919 noch 5021 Kranke und 700 Tote, 1920 2115 Kranke und 354 Toten. Mozart erkrankt an Pocken, Stalin später auch (Fotos mit seinen Pockennarben müssen retuschiert werden), Zar Peter II. stirbt daran, in Südamerika geht die Hälfte der Ureinwohner durch Einschleppung der spanischen Eroberer daran zugrunde - sechs Millionen Menschen.

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Seit 1874 schreibt das „Reichsimpfgesetz“ eine zweimalige Impfung vor, im ersten und zwölften Lebensjahr. In Preußen wird schon vorher durchgeimpft – kein Wunder, das preußische Sterberegister zeigt für 1796 beispielhaft, dass bei jedem sechsten Toten die Pocken die Ursache sind. Im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 sterben noch 250 deutsche Soldaten an Pocken, bei den Franzosen 25.000, weil dort die Impfung fehlt.

Der Weg zur Immunität

1798 hat der englische Arzt Edward Jenner entdeckt, dass durch eine Übertragung der Viren von Kuhpocken auf den Menschen eine künstliche Blatternerkrankung hervorgerufen werden kann – die dann leicht verlaufend zur Immunität führt. Aus der Welt sind die Pocken damit nicht. 1882 werden sie nach Westfalen eingeschleppt. Es bricht eine größere Epidemie in Meschede, Arnsberg, Brilon, Altena und Siegen mit 228 Pockenkranken aus.

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1882 schleppt sie auch in Wickede ein Lumpensammler ein: Über 200 Erkrankte, die Krankheit verbreitet sich nach Brakel, Holzwickede, Hamm, Soest, Lippstadt. 1884: Die Pocken in Bochum, eingeschleppt aus Ostpreußen. 1904 erkrankt in Olpe ein Kind. Die Spur des Ursprungs dieser Erkrankung lässt sich bis nach Bochum zurückverfolgen, wo die Pocken auch ausbrechen: Acht Tote, 80.000 Menschen werden nachgeimpft. Hier wird auch die Isolierung eingeführt - eine Baracke, die nah am Friedhof steht.

Tote in Eversberg und Meschede

1918/19 gibt es eine Pockenepidemie in Eversberg mit 45 Erkrankten und fünf Toten. In Meschede brechen nach dem Ersten Weltkrieg die Pocken aus.

Als „mustergültig und optimal“ bezeichnen Vertreter der Weltgesundheitsbehörde (WHO) und des US-Gesundheitsdienstes bei einem Besuch des Pocken-Gebietes im Sauerland die Pocken-Alarmpläne des Landes Nordrhein-Westfalen sowie die organisatorischen Maßnahmen zur Bekämpfung dieser tückischen Viruskrankheit.
Als „mustergültig und optimal“ bezeichnen Vertreter der Weltgesundheitsbehörde (WHO) und des US-Gesundheitsdienstes bei einem Besuch des Pocken-Gebietes im Sauerland die Pocken-Alarmpläne des Landes Nordrhein-Westfalen sowie die organisatorischen Maßnahmen zur Bekämpfung dieser tückischen Viruskrankheit. © dpa | Roland Scheidemann

4000 ehemalige deutsche Soldaten geben 1919 im jetzt leerstehenden Gefangenenlager in Meschede ihre Uniformen ab. In dieser „Abwicklungsstelle“ erhalten sie ihren Entlassungsschein und dürfen nach Hause zurück. 1917 hatte Fritz Honsel im Ruhrtal Gelände gekauft und seinen Betrieb von Werdohl nach Meschede verlegt – ab April 1919 erweitern die Honsel-Werke ihren Betrieb und stellen laufend Arbeitskräfte ein. Und die gibt es ja mit den ehemaligen Soldaten.

Am 10. September 1919 erscheint in der Zeitung die Notiz, dass in Eversberg die „schwarzen Pocken“ ausgebrochen seien. Die Kranken werden ins Krankenhaus nach Meschede gebracht – das ist seinerzeit noch die „Ernestinische Krankenanstalt“. Die „Ernestinische“ ist bis 1934 das Mescheder Krankenhaus, mit der Eröffnung des St.-Walburga-Krankenhauses in dem Jahr wird es zum Altersheim (inzwischen abgerissen, heute liegt dort das St.-Elisabeth-Seniorenzentrum).

Plötzlich kehren die Pocken zurück

Durch die Verlegung verbreiten sich die Pocken, zunächst wird auch nur von Windpocken ausgegangen. Am 23. September wird vor Häusern in der Steinstraße, Hennestraße, Mühlenweg und Rebell gewarnt: Sie gelten als ansteckungsverdächtig – wer sich dort in den letzten 14 Tagen aufgehalten hat, soll sich dringend impfen lassen. Sieben Menschen sterben bei diesem Ausbruch, darunter ein 7 Jahre altes Kind. Die Behörden verbieten Ansammlungen, nur der Kirchgang ist erlaubt. Am 1. Oktober 1919 entwarnt das Krankenhaus: Es würden wieder normale Kranke aufgenommen. In der Ittmecke ist der Bau einer Isolierbaracke in Vorbereitung gewesen.

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1967 leitet die WHO ein weltweites Pockenbekämpfungsprogramm ein: Die Zahl der Erkrankungen sinkt um 60 Prozent. 1962 gibt es 60 Länder mit Infektionen, 1970 noch 17 Länder in Afrika, Südamerika und Asien – darunter Pakistan. Jetzt holt das Reisen die Pocken zurück: In Person von Bernd K., der die Pocken von Pakistan aus nach Meschede zurückbringt.

>>>HINTERGRUND<<<

Auch diese Seuchenausbrüche sind bekannt:

1339 verzeichnet die Chronik den Ausbruch der Pest in Eversberg, sie wiederholt sich dort 1668/69.

1636 bricht die Pest im Sauerland aus.

1737/38 ereignet sich in Eversberg die Rote Ruhr, eine bakterielle Darmerkrankung mit blutigem Stuhlgang: 250 Erkrankte, über 50 Tote.

1857: Ausbruch der Ruhr in Meschede

1859: Pocken in Westfeld, Berge, Olpe mit einer Toten.

1860: 23 Krankheitsfälle nach einem Ausbruch der Pocken in Olpe, Berge, Wallen.

1945: Tote durch Typhus in Meschede: Nach den Bombenangriffen wird das Wasser aus Henne und Ruhr getrunken.