Meschede. Nach dem Pockenausbruch in Meschede gibt es heftige Reaktionen, die um die ganze Welt reichen. Die Mutter einer Toten zeigt menschliche Größe.

Hysterie, Panik und Wut. Auch diese heftigen Reaktionen verbinden sich mit dem Pockenausbruch in Meschede vor 50 Jahren. Sie reichten um die ganze Welt.

„Windelweich prügeln“ und „Gammlertour“

Im Mescheder Stadtarchiv liegt noch ein bemerkenswertes Zeitdokument aus jenen Tagen: Unwichtig von seiner Bedeutung her, aber eben bezeichnend für den damaligen Zeitgeist – ein Verwaltungsbeamter aus Recklinghausen schreibt 1970 wütend unter vollem Namen und mit voller Adresse an die Mescheder Stadtverwaltung: Bernd K. als Verursacher der Pocken möge doch „windelweich“ geprügelt werden.

Auch der damalige oberste Verwaltungsbeamte des Kreises Meschede, Oberkreisdirektor Klaus Siebenkotten, schreibt 1970 in der Bilanz zum Pockenausbruch unverblümt von einer „Gammlertour“, auf der K. in Pakistan unterwegs gewesen sei und durch die er die Pocken eingeschleppt habe: „Dem berechtigten Unmut der Mehrzahl der Bevölkerung über Mitmenschen, die ohne selbst zu arbeiten der Allgemeinheit zur Last fallen, hatte sich ein lohnendes Einzelobjekt geboten.“

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Pfarrer mahnt in der Predigt

Die Stimmung in der Bevölkerung kippt, als die Schwesternschülerin Barbara Berndt im St.-Walburga-Krankenhaus an den Pocken stirbt. Jetzt wird deutlich, dass die Pocken tödlich sein können. Es gibt Drohbriefe gegen die Familie von Bernd K. – bis hin zur Morddrohung.

Pfarrer Robert Beule spricht den Menschen in Meschede in seiner Sonntagspredigt ins Gewissen: „Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein.“ Der Pfarrgemeinderat von Mariä Himmelfahrt, in der die Familie K. lebt, verurteilt Drohungen als „nicht nur unchristlich, sondern zutiefst inhuman“. Die Mutter der verstorbenen Barbara sagt: „Ich mache dem jungen Mann, der schließlich meine Tochter angesteckt hat, keine Vorwürfe.“

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Professor Ippen aus der Pockenkommission des Landes besorgt dem Vater von Bernd K., bislang im Mescheder Schlachthof als Hausmeister tätig, einen neuen Arbeitsplatz weit von Meschede entfernt. Die Familie zieht fort.

Es gibt viele Reaktionen:

Panzer ziehen auf

Im Raum Meschede fahren Panzer der Bundeswehr sowie englische und belgische Einheiten auf. Das wird in Meschede als Beweis dafür angesehen, dass die Stadt umstellt werde. Tatsächlich handelt es sich um eine lange angekündigte Übung.

Grieche stirbt

Vier Spezialkliniken in NRW weigern sich, einen griechischen Arbeiter (26) aufzunehmen. Der Mann hatte bei einem Arbeitsunfall im Druckguss des Honsel-Werkes in Meschede durch brennendes Öl lebensgefährliche Verbrennungen erlitten.

Im Januar 1970 stehen die Menschen in Meschede Schlange, um sich gegen Pocken impfen zu lassen.
Im Januar 1970 stehen die Menschen in Meschede Schlange, um sich gegen Pocken impfen zu lassen. © Archiv

Der Mann stirbt Tage später im Mescheder Krankenhaus. Das Innenministerium ordnet Untersuchungen an. NRW-Innenminister Willi Weyer kritisiert bei einem Besuch in Meschede die vier Kliniken scharf: „Man kann Tankwarten und Hoteliers kaum einen Vorwurf machen, wenn selbst Ärzte so reagieren.“ Er spricht von einer „fast schon hysterischen Pockenpsychose“.

Besuchsverbote

In den Krankenhäusern in Brilon und Bigge-Olsberg sprechen die Chefärzte ein generelles Besuchsverbot aus – aus Sorge, die Pocken können auch bei ihnen eingeschleppt werden.

Schüler in „Pocken-Ferien“

In Meschede wird den Schulkindern empfohlen, den Schederweg am Krankenhaus zu vermeiden. In Korbach und Willingen schicken die Gymnasien Schüler aus dem Sauerland für zehn Tage in „Pocken-Ferien“ nach Hause.

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Fahrlehrer sagt Prüfungen ab

Fahrlehrer in Freienohl, Eversberg und Ramsbeck erhalten vom Prüfer des TÜV aus Hagen Absagen: Der Vater von vier Kindern hat Angst ins Sauerland zu kommen, um Fahrprüfungen durchzuführen. Tankstellen an Autobahnen und Bundesstraßen weigern sich, Autos mit Mescheder Kennzeichen zu versorgen.

„Psychose“

Die Pockenkommission des Landes muss öffentlich klarstellen: „Die Übertragung der Krankheit durch Handelsgüter ist unmöglich.“ Sie betont auch, es bestehe kein Anlass, Personen aus Meschede oder Warstein zu meiden. Oberkreisdirektor Siebenkotten schreibt: „Diese Psychose, die teilweise an eine Panik grenzte, hat sich auf das Wirtschaftsleben in ganz erheblichem Maße ausgewirkt.“

Späterer OKD betroffen

In Münster weist die Universitätsklinik in der Orthopädie die Kinder eines Regierungsrates aus Neheim-Hüsten ab. An der Klinik steht das Schild: „Für Besucher aus Meschede gesperrt.“ Der Klinikchef ordnet an, keine Patienten aus den Kreisen Meschede, Arnsberg, Brilon und Wiedenbrück aufzunehmen oder zu untersuchen. Betroffen ist Egon Mühr, der später als Oberkreisdirektor von 1987 bis 1995 an der Spitze des Hochsauerlandkreises steht.

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Alarm im Gesundheitsamt

Beim Kölner Gesundheitsamt wird kurzzeitig Pockenalarm gegeben. Dort hatte sich eine Frau mit „unklaren Hauterscheinungen und Fieber“ gemeldet. Die Frau (41) wird in eine Isolierstation gebracht, Abstrichproben werden ins Tropeninstitut nach Hamburg geflogen, die Mitarbeiter des Gesundheitsamtes werden geimpft. Es findet sich kein Hinweis auf Pocken.

Vertrauen in Benelux-Staaten

Die Niederlande, Belgien und Luxemburg erklären ihr Vertrauen in die Bundesrepublik – obwohl sie die nächsten Anrainer bei einem Pockenausbruch sind: Die Bekämpfung und Eindämmung einer Epidemie sei Sache des Staates, in dem der „Herd“ einer Seuche sei – und nicht die anderer Staaten.

Abgewiesen an der Grenze

Anders halten es andere Staaten. Großbritannien, Portugal, Spanien, Israel und Bulgarien fordern von allen Reisenden aus der Bundesrepublik bei der Einreise jetzt Impfbescheinigungen. Die DDR verlangt nur von Besuchern aus NRW Impfzeugnisse. Ein Fernfahrer aus Neheim-Hüsten wird an der Grenze abgewiesen, er muss sich in Helmstedt erst impfen lassen.

Reaktionen bis nach Japan

Frankreich, Jugoslawien, Italien, Griechenland und die Tschechoslowakei verlangen gezielt von Reisenden aus dem Sauerland eine Impfung: Wer keinen Impfpass hat, kommt 14 Tage in Quarantäne. Jugoslawien verlangt die Impfung auch von seinen Gastarbeitern in Deutschland. In Japan wird die Bevölkerung wegen des Mescheder Ausbruchs zur Impfung gegen Pocken aufgerufen: Zur Begründung sagt das japanische Gesundheitsministerium, zur Weltausstellung ab März 1970 in Osaka kämen viele Besucher aus dem Ausland.

>>>HINTERGRUND<<<

Der Fremdenverkehr geht stark zurück in der Pocken-Zeit. Trotz Schneehöhen von bis zu 1,75 Meter und Karnevalstagen im Rheinland gibt es bis zu 70 Prozent Belegungsrückgänge.

Die Abbestellungen sind umso größer, je näher die Hotels und Pensionen zur Stadt Meschede liegen: „Kleinere Pensionen und Gasthöfe hatten zum Teil Totalausfall“, so die Kreisverwaltung.

Allein im Fremdenverkehr werden die Einnahmeausfälle auf 4 Millionen Mark geschätzt.

Im Kreis Meschede geht der Wochenend-Tourismus im Januar und Februar 1970 um 70 bis 80 zurück, im Kreis Brilon um 50, im Kreis Arnsberg um 40 bis 50 Prozent zurück. Eine Reisegruppe aus Schweden sagt wegen der Pocken komplett ab.