Meschede. 4000 Einwohner hatte Meschede während des Ersten Weltkrieges. 10.000 Gefangenen lebten im Lager nördlich der Bahn. Eine Parallelgesellschaft.

Die Lagerstraße ist den meisten Meschedern ein Begriff. Man weiß, dass dort im Ersten Weltkrieg Kriegsgefangene untergebracht waren. Nur wenige kennen aber die Ausmaße: Meschede hatte 1916 rund 4000 Einwohner und 10.000 Gefangene. Werner Neuhaus, pensionierter Gymnasiallehrer aus Sundern, schließt mit seinem Buch über „Belgische Zwangsarbeiter im Kriegsgefangenenlager Meschede im Ersten Weltkrieg“ eine weitere Lücke. Im Gespräch ordnet er die Bedeutung des Lagers ein. Wichtigste Grundlage sind die Tagebuchaufzeichnungen des Lagerseelsorgers und Mescheder Schulleiters Ferdinand Wagener.

Pfarrer Ferdinand Wagener hat Tagebuchaufzeichnungen als Lagerseelsorger hinterlassen.   
Pfarrer Ferdinand Wagener hat Tagebuchaufzeichnungen als Lagerseelsorger hinterlassen.    © Jubiläumsstiftung Sparkasse

Herr Neuhaus, warum ist die Geschichte des Lagers so wenig erforscht?

Werner Neuhaus: Das liegt vor allem daran, dass die Akten in Berlin während des Zweiten Weltkrieges durch Bomben vernichtet wurden. Dazu kommt, dass es kaum Kontakte zwischen Bevölkerung und Lager gab. Mit Ausnahme von Rektor Wagener. Auch deshalb sind seine Aufzeichnungen so wichtig.

Waren die Mescheder nicht daran interessiert, was da 1914 nördlich der Bahn quasi aus dem Boden gestampft wurde?

Das schon, aber nach den ersten neugierigen Sonntagsspaziergängen war schnell klar, dass dort Schaulustige nicht erwünscht waren. Überall gab es Warnschilder: „Nicht näher kommen! Gebrauch von Schusswaffen!“ Die Kontaktaufnahme war strengstens verboten. Keine Briefe, keine Lebensmittelspenden. Und die Bewacher selbst kamen ja auch häufig nicht aus der Gegend.

Auch interessant

Warum wurde ausgerechnet hier ein so großes Lager errichtet, eins der sechs größten von 175 im Deutschen Reich?

Es gab bereits eine Garnison. Und über die Bahnlinie ließ sich das gesamte Gebiet zwischen Kassel und Ruhrgebiet erschließen. Außerdem konnte der Graf von Westphalen direkt an der Bahn freie Flächen zur Verfügung stellen. Es war anfangs als „Schlammhölle“ ohne Licht und Latrinen verschrien, die das Wasser der Ruhr vergiftete.

Das Bild aus dem Dezember 1917 zeigt die Ausmaße des Kriegsgefangenenlagers auf dem Galiläaer Feld, unten sieht man die Eisenbahngleise, rechts die Fabrikgebäude der Firma Leisse, oben links die Gebäude des Fleckens Galiläa.
Das Bild aus dem Dezember 1917 zeigt die Ausmaße des Kriegsgefangenenlagers auf dem Galiläaer Feld, unten sieht man die Eisenbahngleise, rechts die Fabrikgebäude der Firma Leisse, oben links die Gebäude des Fleckens Galiläa. © Jubiläumsstiftung Sparkasse Meschede

Das Lager war erst Kriegsgefangenenlager vor allem für Franzosen und dann später Lager für belgische Zwangsarbeiter. Auf die Belgier haben Sie jetzt besonders geblickt.

Deutschland hatte das kleine Nachbarland 1914 überrannt. Die deutsche Industrie brauchte Ersatzarbeitskräfte für die eingezogenen Soldaten. Erst versuchte man diese freiwillig zu rekrutieren. Als das misslang, wurden Männer von der Straße verschleppt und in Viehwaggons nach Deutschland gebracht. Vom Stammlager Meschede aus sollten sie dann als Zwangsarbeiter verteilt werden. Insgesamt 60.000 Belgier wurden nach Deutschland deportiert, rund 8000 waren im Herbst 1916 in Meschede.

Eine Aktion, die gründlich misslang. Nach fünf Monaten wurde die Aktion bereits beendet.

Ja, für die meisten Belgier galt es als Vaterlandsverrat, für die Deutschen zu arbeiten. Deshalb sollte ihr Wille gebrochen werden. Die Essensrationen lagen noch unter denen der französischen Kriegsgefangenen. Und das im bitterkalten Steckrübenwinter 1916/17, in dem bei minus 30 Grad auch deutsche Familien verhungerten und erfroren. Besonders „renitente“ Belgier wurden in weiter entfernte Strafkommandos gesteckt. Rund 100 sind im Lager gestorben und auf dem so genannten Franzosenfriedhof beerdigt. Die meisten zwischen Januar und März 1916. Wagener hat sie alle aufgelistet.

Auch interessant

Welche Rolle spielte Ferdinand Wagener?

Er hatte als Lagergeistlicher, der französisch und ein wenig flämisch sprach, Zugang zu den katholischen Belgiern. Er erfüllte seine Pflicht als Geistlicher bis zur Erschöpfung. Er beerdigte, hörte die Beichte, hielt Messen ab und setzte sich für die Verbesserung ihrer Lebensumstände ein. Dabei war er aber keinesfalls ein Pazifist. Er war Monarchist, Nationalist, überzeugt, dass Deutschland den Krieg führen und gewinnen müsse und auch ein Antisemit. In der Mescheder Gesellschaft gehörte er als Rektor der Höheren Stadtschule, einer Art Realschule, zu den Honoratioren.

Die Bildhauerwerkstatt, hier entstand auch das Denkmal auf dem Friedhof für Kriegsgefangene.
Die Bildhauerwerkstatt, hier entstand auch das Denkmal auf dem Friedhof für Kriegsgefangene. © Jubiläumsstiftung Sparkasse Meschede

Viele Mescheder verbinden mit dem Lager die Bilder aus dem ehemaligen Archiv Schulte, die heute der Jubiläumsstiftung der Sparkasse gehören. Bilder von sauberen Baracken, OP-Räumen, Box- und Theaterclubs.

Es gab auch solche Zerstreuungen. Rektor Wagener kritisierte zum Beispiel, dass Männer in Frauenkleidung auf der Bühne weibliche Rollen übernahmen. Aber diese Bilder waren alle Teil der Kriegspropaganda.

Mit Kriegsende wurde das Lager geräumt?

Unter komplett chaotischen Zuständen. 1918 herrschte dort die Spanische Grippe. Wagener stellte fest: „Die Menschen sterben wie die Fliegen.“ Alle Kriegsgefangenen mussten über die völlig überbelegten Lager zurück nach Hause. Gleichzeitig brach die Revolution aus. Der Priester befürchtete den Untergang des Abendlandes.

HINTERGRUND

Werner Neuhaus ist 72 Jahre alt.

Er war 35 Jahre Lehrer für Englisch und Geschichte am Gymnasium Sundern und hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht.

Sein Buch „Belgische Zwangsarbeiter im Kriegsgefangenenlager Meschede im Ersten Weltkrieg“ ist erschienen im Waxmann-Verlag Münster, 2020, ISBN2366-6927

KURZ UND KNAPP

Krieg...beginnt immer als Propaganda

Das Mescheder Lager... ist eine der großen Unbekannten in der Geschichte

Lernen kann man aus der Geschichte... wie brandgefährlich es ist, am Thema Krieg zu zündeln