Ihr Sohn Lennard kommt tot zur Welt. Die Ärzte sprechen vom Plötzlichen Kindstod. Sarah Lingg schildert die schlimmsten Momente ihres Lebens.

S ieben Mal Hormone, sieben Mal Hoffen, ob es diesmal klappt. Beim siebten Mal war er Anfang Januar dann endlich da: der positive Schwangerschaftstest. Da es auf normalen Weg nicht klappte, waren wir auf eine Kinderwunschklinik angewiesen. Besser hätte das Jahr 2017 nicht starten können. Wir würden nach vielen Jahren des Wartens auch eine kleine Familie sein. Nach den ersten drei Monaten waren wir uns sicher, die kritische Zeit geschafft zu haben, und sagten allen Bescheid.

© Privat

Wir genossen die Schwangerschaft, kauften ein Bettchen, Babysachen... Am 24. August 2017 sollte die Geburt eingeleitet werden. Die Tage verstrichen und wir waren nur noch eine Woche vom glücklichsten Tag unseres Lebens entfernt. Genau das war der Morgen, an dem ich spürte, dass etwas anders war. Lennard bewegte sich nicht und ich versuchte ihn mit Anstupsen und einer Autofahrt, die mochte er nie, aus der Reserve zu locken. Doch es passierte nichts. Abends liehen wir uns ein Gerät zum Abhören der Herztöne bei der Nachbarin aus. Kaum hatten wir es angesetzt, konnten wir den kräftigen Herzschlag hören und waren enorm erleichtert. Dass dieser Herzschlag mein eigener war, erfuhren wir drei Tage später im Krankenhaus.

Einmal in die Hölle und zurück

„Es tut mir leid, da ist kein Herzschlag mehr“, sagte die Oberärztin. Wumm... einmal in die Hölle und zurück. Ich hörte meinen Mann weinen und betteln, sie sollten mich aufschneiden und den Kleinen retten. Wie erstarrt blieb ich liegen und hoffte, der freie Fall, in dem ich mich befand, würde endlich stoppen. Alle Träume, alle Hoffnungen, sie waren von einer Sekunde auf die andere zerplatzt. Die Ärzte ließen uns einige Minuten allein und währenddessen konnten wir aus dem Fenster beobachten, wie Babyschalen aus dem Krankenhaus getragen wurden. Wie kann es sein, dass sich die Welt weiterdreht, während unsere Welt still steht?

50 Zentimeter, 3930 Gramm, still

Als die Ärztin zurück kam, hatte ich mich schon für einen Kaiserschnitt entschieden. „Nein, das ist nicht ratsam. Sie werden das Baby normal bekommen“, sagten die Ärzte. Da jedoch nur die Wochenendbesetzung da

Sarah Lingg verliert ihren Sohn Lennard in der 38. Schwangerschaftswoche. Sie besucht ihn häufig am Grab.
Sarah Lingg verliert ihren Sohn Lennard in der 38. Schwangerschaftswoche. Sie besucht ihn häufig am Grab.

sei, sollten wir montags wiederkommen. Das war wahnsinnig schlimm. Wir riefen in einem anderen Krankenhaus an. Dort bezogen wir ein Einzelzimmer auf einer separaten Station ohne Babygeschrei. Auch hier rieten sie mir vom Kaiserschnitt ab und leiteten die Geburt ein. Im Nachhinein war dies für uns der beste Schritt. Mit jedem Tag konnten wir uns ein Stück weit besser vorbereiten. Fünf Tage dauerte die Einleitung und am 24. August 2017 kam Lennard in den frühen Morgenstunden zur Welt. 50 Zentimeter groß, 3930 Gramm schwer, aber still. Mein Mann nahm Lennard in Empfang, streichelte und küsste ihn, wusch ihn im Nebenzimmer und zog ihn an. Ich selbst war nicht so mutig, und sah ihn etwa zwölf Stunden später zum ersten Mal. Mein Schatz, dem ich die Welt zeigen wollte, lag vor mir und lebte nicht mehr.

Die Ärzte sprachen vom Plötzlichen Kindstod. Wir ließen Lennard nicht untersuchen, weil wir ihm seine Ruhe geben wollten. Habe ich etwas falsch gemacht? Schuldgefühle begleiteten mich lang. Später entschied ich, mir diese Fragen nicht mehr zu stellen. Ich werde darauf keine Antworten finden. Es hätte mich sonst zerfressen.

Lia kommt ein Jahr später zur Welt

Die Situation belastete nicht nur uns. Viele waren überfordert, Freunde zogen sich zurück. Manche verletzten uns mit Floskeln wie „Du bist noch jung, du kannst wieder schwanger werden.“ „Wer weiß, wofür es gut war.“ Ja, wer weiß. Mein Kind ist tot. Bis heute weiß ich nicht, was daran gut sein soll.

Schön waren kleine Gesten, wie die unbekümmerte Art des Sohnes meiner Freundin. Der Fünfjährige legte Eicheln auf Lennards Grab und sagte beim nächsten Besuch: „Sarah! Ich habe einen Fehler gemacht! Ich muss die Eicheln eingraben, sonst kann er sie gar nicht sehen.“

Trauer und Tritte

Bald ist nun auch der Grabstein fertig. Wir haben ein Geheimfach einbauen lassen, damit unsere Tochter Lia ihm Bilder malen kann. Sie kam vor sechs Monaten zur Welt, also fast genau ein Jahr nach Lennard. Für uns war nach der Geburt klar, dass wir es noch einmal versuchen wollen. Dass es so schnell klappte, war überraschend. Weil es vorher ja so lang gedauert hatte. Diese Schwangerschaft verlief anders als die erste. Bis ich Lia das erste Mal spürte, ließ ich den wachsenden Bauch kaum an mich heran. Zu groß war die Angst. Ich weiß, wie traurig und furchtbar das klingt. Ich fühle beides, ihre Tritte und Trauer. Je näher Lennards Todestag rückte, desto nervöser wurde ich. Die Tage im August vergingen nicht. Wir waren so froh, als wir Lia endlich bei uns hatten - lebend.

  • Sarah Lingg (36), geborene Bücker, wuchs in Velmede auf und legte 2002 ihr Abitur am Gymnasium der Stadt Meschede ab.
  • Die gelernte Zahntechnikerin arbeitet heute in der Pharmabranche und lebt seit acht Jahren im schweizerischen Ort Gretzenbach, zwischen Basel und Zürich. Dort wohnt sie mit ihrem Mann und Tochter Lia, die vor sechs Monaten zur Welt kam.


  • Sarah Lingg sprach nach dem Tod ihres Sohnes mit Trauerbegleitern und fand Halt in Selbsthilfegruppen. In Meschede bietet der Sozialdienst katholischer Frauen trauernden Müttern Hilfe an. Kontakt: Angela Kloppenburg, 0291/7131, schwangerschaftsberatung.m@skf-hochsauerland.de
  • Auch verwaisten Müttern wird ein Rückbildungskurs empfohlen, um den Körper nach der Geburt zu stärken. Da sie verständlicherweise nicht mit frischen Müttern trainieren möchten, können sie Einzelstunden buchen. Maya Wiese von den Sauerlandhebammen in Meschede erklärt: „Hebammen können auf ärztliche Verordnung Einzel-Rückbildungsgymnastik mit den Krankenkassen abrechnen.“