Lendringsen. Weil sie keine eigenen Enkel hat, startet Annette Freund auf Facebook einen Aufruf. Sie will Leih-Oma sein – und ist nun viel mehr als das.
Es ist Mittwoch, die Sonne scheint, Vögel zwitschern. Vor einem Einfamilienhaus in Lendringsen steht ein Auto. Es klingelt. Besuch ist da. Die Tür fliegt auf. Dahinter steht die zweijährige Nele. „Hi!“, ruft sie selbstbewusst und läuft aufgeregt los. „Oooooma! Guck mal da!“, sagt sie zu Annette Freund. Die 67-jährige Mendenerin lächelt und streichelt Nele liebevoll den Kopf. Was wie absoluter Alltag klingt, ist etwas ganz Besonderes. Denn Annette Freund ist eigentlich gar nicht Neles Oma, zumindest rein biologisch gesehen. Die Beiden haben über Facebook zueinander gefunden. Und das ist ihre Geschichte.
Eigene Tochter möchte keine Kinder – Annette Freund sucht sich ein Enkelkind
Schon immer malt sich Annette Freund aus, wie es später sein wird, mit ihrem Enkelkind die Welt noch einmal neu zu entdecken. Wenn sie in Rente ist, so denkt sie sich, hat sie genug Zeit, sich auf das Abenteuer Oma-Sein einzulassen. „Ich habe eine Tochter“, erzählt sie. „Aber sie hat schon früh, mit 20, gesagt, dass sie keine Kinder möchte.“ Und nun?
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„Ich habe mir gedacht, wenn ich in Rente bin, dann suche ich mir einfach ein Enkelkind“, sagt Annette Freund und lacht. Im August 2022 meldet sie sich bei Facebook an – mit dem Willen, dort einen Aufruf zu starten. Doch dann verlässt die Frau aus Bösperde der Mut. Wie reagieren die anderen Nutzer darauf? Wird es unschöne Kommentare geben? „Ich bin zurückgescheut und habe es erst einmal über die Stadt probiert.“ Über ein Patenprojekt erhält sie Kontakt zu einer Alleinerziehenden mit Kind, die sich über Hilfe im Alltag freuen würde. Rund drei Monate probieren sie es miteinander. Doch der Versuch scheitert. „Die Mutter konnte einfach nicht loslassen. Es war noch zu früh. Ich war dann natürlich total enttäuscht.“
Aufruf über Facebook: „Ich würde gerne meine Großmutter-Qualitäten kennen lernen und entwickeln“
Der Wunsch nach einem Enkelkind bleibt. Schließlich nimmt Annette Freund im März ihren Mut zusammen und startet endlich den Aufruf, der ihr schon so lange auf dem Herzen liegt. „Gibt es in Menden oder nährer Umgebung kleinere Kinder, die keine Oma in der Nähe haben? Ich bin 67, noch fit und habe keine Enkel. Ich würde gerne meine Großmutter-Qualitäten kennen lernen und entwickeln. Deshalb möchte ich mich als Leih-Oma bewerben.“
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Sandra Lauenstein lächelt. „Das war eine sehr schöne Anzeige. Ich habe sie auch noch“, sagt die Mutter von Nele und schaut zu Annette Freund, die sich gerade mit Nele beschäftigt. „Ich habe es durch Zufall gelesen“, erinnert sie sich. „Ich habe einfach mal geantwortet.“ Doch der Beitrag bekommt schnell mehrere hundert Likes und zig Kommentare. Viele Familien fühlen sich angesprochen. „Ich habe noch gedacht: Das kannst du vergessen.“ Doch beide Seiten verabreden sich miteinander. Verunsichert fragt die 39-Jährige kurz vor dem ersten Treffen noch einmal nach: „Haben wir noch eine Chance?“
Ja, haben sie. Bereits beim ersten Treffen stimmt die Chemie. „Es war wie ein Lottogewinn. Angenehm, nett und herzlich. Das Ganze ist ja auch eine Vertrauenssache“, sagt Annette Freund sichtlich glücklich. Es folgen mehrere Treffen. „Nele sagt schon Oma zu mir.“ Ein tolles Gefühl. Gemeinsam spielen sie, gehen Eis essen oder auf den Spielplatz – eben alles, was Omas so machen.
Mehr als nur Betreuung und ungewohnte Zeit zu zweit für die Eltern
Sandra Lauensteins Mama stirbt, während der Schwangerschaft mit Nele. Ein schrecklicher Verlust. Alle anderen Großeltern wohnen zu weit weg oder sind nicht mehr fit genug. Über einen Babysitter hatte die Familie schon öfter nachgedacht, doch sich letztlich dagegen entschieden. Zu jung und unerfahren seien die meist noch sehr jungen Babysitter.
Jetzt haben Sandra Lauenstein und ihr Partner Christian Klute Annette an ihrer Seite. Und das, obwohl Christian Klute erst gar nicht wollte. „Ich war erst skeptisch, weil technisch gesehen noch eine Oma da ist. Aber mittlerweile ist es eine tolle Sache und auch für uns interessant.“ Sandra Lauenstein lacht. So hätten die Eltern das erste Mal seit zwei Jahren 20 Minuten völlig freie Zeit für sich gehabt, als Nele und Oma auf dem Spielplatz waren. „Da haben wir uns angeguckt und gefragt: Und was jetzt?“, sagt die Mutter und lacht. Eine ungewohnte Situation. „Wir haben uns dann aufs Sofa gesetzt und gewartet“, ergänzt sie und lacht wieder. Mittlerweile verbringen Nele und Oma mindestens einmal die Woche mehrere Stunden miteinander.
Doch es geht bei der „Leih-Oma“ nicht nur um Entlastung und freie Zeit für die Eltern. Es ist viel mehr. „Ich wünsche mir, dass Nele mit Annette aufwächst“, sagt die 39-Jährige. Annette Freund strahlt. Ihr scheinen die Worte viel zu bedeuten. „Es ist besser als ich es mir jemals vorstellen konnte. Ich wollte eigentlich nur ein Enkelkind – und habe jetzt eine tolle Familie.“