Menden. 70 Prozent der Fälle sind Kindesvernachlässigung. Mendens Jugendamtsleiter Goebels erklärt die Gründe und erzählt von schlimmen Erlebnissen.

Fälle mit Kindeswohlgefährdung nehmen im Märkischen Kreis stetig zu. Von Jahr zu Jahr steigt die Zahl der Meldungen, die beim Jugendamt ankommen, an. Auch hier in Menden haben die Fälle deutlich zugenommen. Während es 2016 noch knapp über 100 Meldungen waren, sind es 2018 schon mehr als 200. Sophie Beckmann hat den Mendener Jugendamtsleiter Christian-Peter Goebels gefragt, was die Gründe für den Anstieg sind.

Woran liegt es, dass die Zahl der Fälle steigt?

Christian-Peter Goebels: Man kann nicht direkt sagen: Die Fallzahlen steigen, die Welt wird schlechter. Es handelt sich hier ja immer noch um die Zahl der Meldungen. Natürlich prüfen wir jede einzelne Meldung und zwar sehr gründlich. Das heißt, dass immer mindestens vier Augen auf einen Fall gucken, denn es geht hier um das Wohl von Kindern. Durch die vielen Fälle, die in letzten Jahren ans Licht gekommen sind, ist das Thema viel populärer geworden und mehr Menschen trauen sich Auffälligkeiten zu melden – und das ist auch gut so.

Welche Fälle meinen Sie?

Beispielsweise die Fälle in Lügde oder der Fall „Kevin“ in Bremen. Da hätte sich natürlich schon viel eher gekümmert werden müssen. Allerdings ist es auch leider immer wieder der Fall, dass es von außen kaum oder gar nicht sichtbar ist, dass das Wohl eines Kindes gefährdet ist. Ich war 30 Jahre in Hagen beim Jugendamt tätig und auch selbst im Einsatz, wenn es um Fälle von Kindeswohlgefährdung ging. Da hat man wirklich schlimme Sachen erlebt – und natürlich denken wir uns oft, hätte man das nicht verhindern können. Aber ich glaube, dass es falsch wäre, da jemandem von uns die Schuld zu geben.

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Verständlich. Belastet Sie der Job?

Definitiv ja. Bevor ich Jugendamtsleiter war, hat mich der Job extrem belastet. Es sind wirklich schlimme Schicksale. Kinder werden misshandelt, haben gebrochene Arme, blaue Augen und sind einfach unfassbar verängstigt. Was ich damals in Hagen alles gesehen habe, wird mir für immer in Erinnerung bleiben. Das waren Geschichten, die hat man mit nach Hause genommen. Das ist kein „nine to five“-Job. Einen Fall werde ich niemals vergessen, das war so tragisch und ergreifend. Es ging um ein junges Mädchen, das wir schon als Kind in Obhut genommen haben, sie hat zuhause massive Gewalt erleben müssen. Als sie 16 Jahre alt war, hat sie sich endlich getraut, vor Gericht auszusagen. Doch das war so belastend für das Mädchen, dass sie danach ins Koma gefallen und mittlerweile auch leider verstorben ist. Heutzutage bin ich ja hier in Menden als Jugendamtsleiter tätig, aber ich habe nach wie vor wahnsinnigen Respekt vor meinen Kollegen, die sich mit den Familien, Kindern und Jugendlichen auseinandersetzen.

Christian-Peter Goebels ist Mendens Jugendamtsleiter

Christian Goebels ist 58 Jahre alt und kommt aus Hagen.

Er hat 30 Jahre beim Hagener Jugendamt gearbeitet, davon acht Jahre im sozialen Dienst .

Seit zweieinhalb Jahren ist er in Menden als Jugendamtsleiter tätig.

Für Mitarbeiter beim Jugendamt im Bereich Kindeswohl ist die psychische Belastung sehr hoch, sagt Goebels. Denn sie müssen bei gemeldeten Fällen entscheiden, ob das Kind noch sicher ist.

Gibt es denn Fälle mit solch dramatischem Ausgang auch in Menden?

Also erstmal sind wir hier in Menden wirklich sehr gut aufgestellt, was das Thema Kindesschutz angeht. Die Arbeit hier ist wirklich vorbildlich und wird immer erweitert. In Menden sind ungefähr ein Viertel der gemeldeten Fälle Vorkommnisse, wo die Kinder gefährdet sind. Aber da liegen wir im Bundesschnitt, das macht die ganze Sache natürlich nicht weniger schlimm. Hier gibt es selbstverständlich auch tragische Fälle, aber so extrem wie damals in Hagen ist es nicht.

Und was ist die häufigste Ursache, die bei Ihnen gemeldet wird?

70 Prozent der Fälle sind Kindesvernachlässigung. Da wird sich nicht genug um das Kind oder die Jugendlichen gekümmert. Das ist echt traurig, denn besonders im jungen Alter ist eine feste Bindung enorm wichtig. Die weiteren 30 Prozent beziehen sich dann häufig auf Gewalt- und Missbrauchsfälle. Aber da ist auch nach wie vor das „Dunkelfeld“ sehr hoch.

Kann der Kindeswohlgefährdung denn vorgebeugt werden?

Meine Meinung ist, dass man nicht genug tun kann – wir müssen immer die Augen und Ohren offen halten und uns stetig weiter entwickeln. Der beste Schutz für ein Kind ist in meinen Augen eine gute Bindung. Sei es zu den Eltern oder zu jemand anderem aus der Familie. Das Problem ist, dass wir nicht überall hingucken können und die wenigsten Betroffenen sich von selbst melden. Um der Gefährdung vorzubeugen, sollten die Mitarbeiter auf jeden Fall noch besser geschult werden. Ich meine, das werden sie schon, aber man muss da weiter dran arbeiten.

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