Kreis Olpe/Attendorn. Der dramatische Engpass bei Pflegekräften erfordert ungewöhnliche Maßnahmen. Warum Caritasmitarbeiterinnen um die halbe Welt reisen.
„Natürlich hoffen wir, dass sie bleiben“, sagt Ute Rullich von der Caritas im Kreis Olpe. „Verpflichten können wir aber niemand.“ Ute Rullich ist Projekt-Managerin bei der Caritas für ein im wahrsten Sinn des Wortes exotisches Programm: die Anwerbung und Weiterbildung von Pflegefachkräften aus vielen Teilen der Welt. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Julie Hausotte (Leiterin Personalentwicklung und -marketing) war Ute Rullich bis nach Nordafrika geflogen, um im Rahmen des Triple Win-Programmes der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) junge Menschen in Tunesien anzuwerben, die hierzulande den eklatanten Fachkräftemangel in der Pflege lindern sollen: „Für uns ist das ein ungeheuer spannendes und vielfältiges Projekt. Schon in wenigen Wochen werden wir erneut im Flieger sitzen, nach Kerala in Indien.“
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Wir treffen an diesem Nachmittag Nadia May (28) aus Monastir und Afif Mezrigui (26) aus dem nordtunesischen Jendouba im Seniorenhaus Mutter Anna in Attendorn: „Die Pflege war schon immer unser Berufswunsch“, spricht Nadia auch für ihren Landsmann Afif. Beide haben in Tunesien das Studium der Gesundheitswissenschaft absolviert, das für viele Gesundheitsberufe qualifiziert, aber eher theoretisch aufgebaut ist. Jetzt wollen beide Praxiserfahrung in einem deutschen Seniorenhaus sammeln. Altenpflegeheime wie in Deutschland sind in Tunesien eher eine Seltenheit. Ältere Familienangehörige werden überwiegend in den eigenen, meist großen Familien betreut. Während sich Nadia in Tunesien bisher in einem sozialen Verein um ältere Menschen kümmerte, hat Afif in der Notaufnahme eines Krankenhauses medizinische Erfahrungen gesammelt.
Tunesier sprachbegabt
Eine der größten Hürden, die sie jetzt nehmen müssen, um ihre Anerkennung als Pflegefachkraft zu bekommen, ist die Sprache. Wir können uns an diesem Nachmittag gut mit ihnen verständigen. Die Tunesier sind zweifellos sprachbegabt, können neben ihrer Amtssprache Arabisch das kolonial bedingte Französisch - und bald auch Deutsch. „Es gibt nun mal keine Rose ohne Dornen“ lacht Nadia, die wie Afif seit sechs Monaten erfolgreich die deutschen Fälle, Zeiten und Redewendungen büffelt. Mit Erfolg. Die sogenannte B 1-Prüfung haben sie schon bestanden, für ihre erfolgreiche Ausbildung fehlt die nächste Stufe, die B 2-Prüfung.
Dass beide ebenso ehrgeizig wie ambitioniert sind, daran lassen sie keinen Zweifel aufkommen: „Es ist mein Plan, mich weiterzubilden“, sagt Afif, „in Richtung Medizin.“ Ähnlich formuliert es Nadia, deren Schwester in Frankreich als Ärztin arbeitet. Aber auch eine Selbstständigkeit mit einem eigenen Pflegedienst schließen sie nicht aus. Auf die Frage, was sie im Sauerland am meisten vermissen, zögern sie keine Sekunde: „Unsere Familien“. Das sind bei Afif immerhin sieben Brüder und eine Schwester und zehn Neffen und Nichten, während Nadia sogar schon eine eigene Tochter hat, die während ihrer Ausbildung bei ihrer Mutter in Tunesien lebt.
GIZ 100-prozentige Tochter des Bundes
Die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) befindet sich zu 100 Prozent im Besitz der Bundesrepublik Deutschland. Den Bund vertreten als Gesellschafterin das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und das Bundesministerium der Finanzen (BMF).
Der zweiköpfige Vorstand besteht aus Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD) und Ingrid-Gabriela Hoven.
Aufsichtsratsvorsitzender ist Jochen Flasbarth (SPD), Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Politischer Träger des Projekts Triple Win sind die jeweiligen Arbeitsverwaltungen in den Partnerländern.
Triple Win steht für die Entlastung der Arbeitsmärkte in den Herkunftsländern (1.), Geldsendungen von Migranten setzen entwicklungspolitische Impulse (2.) und für die Minderung des Fachkräftemangels in Deutschland (3.)
Aber wie entstand die Idee beim Caritasverband für den Kreis Olpe, ein Team nach Nordafrika zu schicken, demnächst sogar nach Indien: „Der Fachkräftemangel ist allgegenwärtig, auch im Kreis Olpe werden in den nächsten Jahren viele Fachkräfte fehlen, in Krankenhäusern und Seniorenhäusern, Wohnhäusern für Menschen mit Behinderung sowie bald auch in Kindergärten“, ist Julie Hausotte sicher, „da drängte sich die Frage auf, was wir tun können.“
2040 fehlen 50 Prozent
Hintergrund: Der Caritasverband wisse schon jetzt, dass im Jahr 2040 nur noch 50 Prozent der benötigten Personal-Ressourcen zur Abdeckung des Bedarfs in der Sozialwirtschaft zur Verfügung stünden. Der Fachkräfte- und Personalmangel werde die Löhne und Gehälter in diesen Bereichen sicher weiter beflügeln.
Einhellige Ausgangsposition bei der Caritas sei gewesen, dass ein solches Projekt ethische Leitplanken haben müsse, „wir wollten keine jungen Menschen nur mit der Möglichkeit des höheren Verdienstes aus ihren Heimatländern weglocken.“ Nach der Prüfung in Deutschland sei niemand gebunden, bei der Caritas zu bleiben, auch die Rückkehr nach Tunesien sei niemand verstellt.
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Das Triple Win-Projekt der GIZ (Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) habe sich nach eingehender Prüfung als das passendste erwiesen. Und Tunesien habe sich als überwiegend muslimisches Land aufgedrängt, da dort der westliche Einfluss eine starke Rolle spiele. „Triple Win hat dann nach unseren Vorstellungen eine Vorauswahl in Tunesien getroffen, und im Juli 2022 haben wir vor Ort unsere Auswahl getroffen“, erläutert Ute Rullich. Nach immerhin 14 Vorstellungsgesprächen mit einem Dolmetscher standen sechs Bewerber fest, drei Frauen, drei Männer. Fünf sind bereits im Kreis Olpe angekommen, eine Frau wird noch erwartet. Ihre Praxiserfahrung sammelt das halbe Dutzend aus Tunesien im Olper Seniorenhaus Gerberweg sowie im Attendorner St. Liborius- und im Haus Mutter Anna.
In sechs bis neun Monaten können die internationalen Triple-Win-„Azubis“ ihre pflegerischen und sprachlichen Defizite aufarbeiten, anschließend müssen sie die gleiche Prüfung absolvieren wie alle anderen Pflege-Azubis nach dreijähriger Lehrzeit in Deutschland.
Jetzt geht es nach Kerala
Für Julie Hausotte und Ute Rullich hat die Arbeit im neuen Projekt mit der Reise nach Tunesien erst begonnen: „Ende August fliegen wir über die Kooperation mit der GIZ nach Kerala in Süd-Indien. Ziel ist es, 12 Bewerber zu finden, die bei uns im Kreis Olpe ihre Kenntnisse in unseren Häusern in Wenden, Finnentrop, Lennestadt und Attendorn vervollkommnen und idealerweise als Fachkraft bei uns bleiben“, hofft Ute Rullich.
Aber das sei noch lange nicht das Ende: „Aus der Projektphase soll ein Regelgeschäft werden“, hebt Julie Hausotte hervor. Wobei die Liste der Länder, in denen die GIZ mit Triple-Win unterwegs ist, noch einiges zu bieten hat: Unter anderem Bosnien und Herzegowina, die Philippinen und Indonesien, Jordanien und eben Tunesien und Indien.