Kirchhundem. Kirstin Wesener ist Altenpflegerin in Kirchhundem. Corona hat ihren Arbeitsalltag schwieriger gemacht. Warum sie trotzdem optimistisch bleibt.
Der Wecker klingelt. Wie fühle ich mich? Fiebrig? Ein Kratzen im Hals? Husten? Schnupfen? Zum Glück alles ok. Dann ab unter die Dusche. Auf dem Weg zum Bad der erste ängstliche Blick auf das Diensthandy. Keine Krankmeldung, keiner in Quarantäne! Nur eine Mail von der Chefin. Ich muss vor der Tour noch ins Büro. Bei einem Klienten steht mal wieder ein Corona-Test an.
So oder so ähnlich beginnt fast jeder Arbeitstag. Corona ist allgegenwärtig. So auch heute! Jeden Tag erlebe ich etwas Neues, kein Tag ist wie der andere. So war es schon vor Corona, aber jetzt… Heute zum Beispiel habe ich eine heftige Niesattacke aus nächster Nähe erlebt. Niesetikette kann eben nicht jeder einhalten und ich kann während der Versorgung auch nicht einfach so zur Seite springen. Corona? Nein, nur Juck in der Nase. Naja, ich hatte ja meine FFP2-Maske auf. Die Klientin und ich haben darüber philosophiert, was wohl geschehen wäre, wenn ihr dies im Supermarkt passiert wäre. Wir konnten uns die Reaktionen bildlich vorstellen! Humor ist, wenn man trotzdem lacht!
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Was habe ich sonst noch so gemacht? Für eine Klientin, die große Angst vor einer Ansteckung hat, aber auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen ist, habe ich Busverbindungen herausgesucht, die hoffentlich nicht stark frequentiert sind. Ein Liter Milch mitgebracht, weil die Angehörigen einer älteren Dame, auf Grund der potentiellen Ansteckungsgefahr, das Einkaufen untersagt haben und sie doch so gern Kakao trinkt. Beschäftigungsvorschläge gegen das Gefühl der Einsamkeit unterbreitet und vor allem ein offenes Ohr für alle Klienten und ihre Angehörige gehabt. Mit einem besorgten Großvater habe ich die Frage erörtert, ob die nächste Generation kalt und unfähig zu wahrer Emotion heranwächst. Eine andere Angehörige beschäftigt die Tatsache, dass die Tagespflege wieder schließen könnte und sie ohne diese Entlastung mit der Pflege ihres Mannes überfordert wäre. Dann war da noch die Dame, die wissen wollte, ob alles Obst geschält werden müsse, da dies doch angepackt wird und jetzt voller Viren sein müsste - diesen Gedankengang hatte ich noch gar nicht.
Arbeit mit Overall, Schutzbrille und Maske
Witzig war die Situation, als ich völlig „vermummt“ – also mit Overall, Schutzbrille, FFP2-Maske und Handschuhe bekleidet, einen Mann, zusammen mit seinen Angehörigen, geweckt habe. Er klopfte an meine Schutzbrille und sagte: „Bist du da drin? Ist da jemand?“ Ja, ja – sich auf den Arm nehmen, das muss man in diesen Zeiten auch können. Wir haben heute viel gelacht. Das tat richtig gut! Da war es auch nicht mehr so wichtig, dass ich in diesem Anzug nass geschwitzt war und so auch noch die Tour weiterfahren musste. Aber ich habe mich auch gefragt, ob ich wohl in dieser Schutzkleidung am Bett eines Sterbenden stehen muss, wenn sich dieser in Quarantäne befindet? Ich hoffe, dass ich nie in diese Situation komme.
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Tief berührt haben mich heute zwei Begebenheiten: Ich wurde gebeten, die Maske abzunehmen. Ein Klient wollte einfach mal wieder ein richtiges Gesicht sehen. Seinem Wunsch bin ich nachgekommen. Ja, mit ausreichend Abstand. Wir haben uns stumm angesehen und angelächelt. Als er sich dafür bedankte, musste ich schon die eine oder andere Träne unterdrücken. Nähe, etwas was meinen Beruf ausmacht, die essenziell ist. In Zeiten von Corona ist es schwieriger geworden eine Beziehung und Nähe aufzubauen. Aus vielerlei Gründen. Und dann war da noch die Frage nach der Triage. Eine ganze Ethikkommission ist mit der Antwort beschäftigt. Und ich stand da und wünschte mir, dass genau in diesem Moment Frau Buyx und Frau Ministerpräsidentin Malu Dreyer diesem Klienten eine Antwort auf seine Frage geben würden. Aber ich war es, der man diese Frage stellte und ich musste sie beantworten: „Bin ich mit meinen über 80 Jahren weniger lebenswert als ein junger Mann von, sagen wir, 55 Jahren? Wer bekäme das letzte Intensivbett?“ Die mediale Berichterstattung ist nicht immer ein Segen…
Und der Corona-Test? Die Menschen wollen aufgeklärt werden. Warum schon wieder? Wieso dürfen Sie das machen? Wie erhalte ich das Ergebnis? Was passiert, wenn ich positiv bin? Zur Gänze kann ich die Fragen auch nicht beantworten. Die Entscheidungen des Bundesministeriums sind nicht immer verständlich und nachvollziehbar. Jeden Tag neu und meist auch anders als am Vortag. Aber so ist es halt!
Spagat manchmal kaum zu schaffen
Ich brauche Zeit, viel Zeit. Manchmal kann ich den Spagat kaum schaffen. Auf der einen Seite soll ich die Klienten relativ pünktlich versorgen, weil sonst der Tagesablauf durcheinander gerät. Arzttermine müssen wahrgenommen werden, Menschen mit Demenz können ihre Tagesstruktur nicht einfach so an Veränderungen anpassen und der Abholservice der Tagespflege hat auch einen festen Fahrplan. Auf der anderen Seite brauchen die Menschen heute mehr denn je ein offenes Ohr, Ansprache und den Austausch. Und neben all dem, springe ich nun auch „nicht mal eben“ in die Apotheke oder zum Hausarzt rein. So wie heute: Warteschlangen wegen der Abstandsregelung. Und jetzt wird auch noch das Symptomtagebuch für jeden Klienten eingeführt, das täglich zu führen ist. Plus 14-tägig Schnelltests. Wie sollen wir, wie soll ich das noch schaffen? Aber ich muss ja. „Wir sind im ambulanten Dienst. Wir sind ja flexibel!“ - Das ist der Slogan meiner Chefin! Und wir schaffen das!!!
Ich frage mich, ob ich den Anforderungen der Aufgaben gerecht werden kann. Reicht es aus, wenn ich mein Bestes gebe? Ich bin angestrengt. Die Dienste fordern mich. Ich muss hochkonzentriert arbeiten, immer geduldig und ausgeglichen sein. So geht es uns allen. Tja und so geschieht es, dass sich das soziale Gefüge in unserem Team verändert. Wenn wir nicht aufpassen, sind wir kein Team mehr, sondern eine Gruppe von Einzelkämpfern. Wir bräuchten dringend Zeit und Raum für Privates, für Lachen und Spaß. Einen Ausgleich, etwas, was uns trägt. Stattdessen diskutieren wir über den neuen Impfstoff und die Frage, ob es für die Pflege wohl eine Impfpflicht gibt. Jetzt steht die Pflege mal im Vordergrund – aber jetzt möchten wir nicht „priorisiert“ sein – also einige von uns. Welche Konsequenzen wird wohl die Änderung des Infektionsschutzgesetzes für uns haben? Wird es irgendwann wieder die Möglichkeit für Weiterbildungen geben? In unserem Beruf kann man nicht alle Fähigkeiten virtuell und online erlangen. Fragen über Fragen…
Den Corona-Test habe ich im Anschluss an die Tour noch zur Abgabestelle gebracht. Nicht immer können Angehörige kurzfristig Unterstützung leisten. Jetzt muss ich noch den Innenraum des Dienstwagens, Handy, Autoschlüssel und sonst noch so Einiges desinfizieren, was ich im Dienst genutzt habe. Und vor allem meine Dienstkleidung waschen. Aber ich brauchte erst mal eine Pause. Musste mir von der Seele schreiben, was mich beschäftigt. Meine neue Copingstrategie! Corona sei Dank!