Herdecke/Wetter. Die Linie 4 nach Herdecke reichte eine zeitlang sogar bis nach Wengern. Die Schienen sind verschwunden. In den Köpfen aber geht die Fahrt weiter.

Andere Städte haben eine Straßenbahn. Herdecke hatte. Bis zum 25. Mai 1974 verkehrte die Linie 4 der Hagener Straßenbahn von Eilpe bis zum Zweibrücker Hof. Girlanden und Schilder schmückten den Triebwagen 78 bei seiner Abschiedsfahrt auf die andere Seite der Ruhr. Mehr als ein halbes Jahrhundert Herdecker Straßenbahngeschichte ging an diesem Tag zu Ende. Die Straßenbahn-Nostalgie aber fing damit erst richtig an.

Ein akteller Facebook-Post erinnert an die letzte Fahrt der Linie 4 nach Herdecke, bevor zwei Jahre später auch die beiden letzten Linien der Hagener Straßenbahn eingestellt wurden. Wer „Bitte einsteigen“ eingibt in der Suche des sozialen Netzwerkes, fährt zielstrebig auf den reichlich bebilderten Nachruf zu. Ins Netz gestellt haben ihn Dirk Göbel und Jörg Rudat.

Wettrennen von Zweirad und Straßenbahn

Jörg Rudat ist Jahrgang 1960 und hatte damit hinreichend Gelegenheit, in die Linie 4 zu steigen. Vor zehn Jahren hat er mit Dirk Göbel einen „dicken Wälzer“ (Rudat) vorgelegt unter dem Titel „Bitte zusteigen - Mit der Linie 4 von der Volme an die Ruhr - Aus der Selbecke über Herdecke nach Wetter.“ 350 Seiten im Großformat waren das, voller Fotos von der wechselvollen Geschichte dieser Straßenbahnlinie.

Der Vater von Dirk Göbel war Fahrer, erklärt Jörg Rudat die besondere Bindung an den schienengebundenen Personennahverkehr. Rudat selbst ist am Hagener Markt in einem Haus für Straßenbahner groß geworden. Und doch hat er die Straßenbahn zunächst einmal mehr als Konkurrenz erlebt: Die Mutter eines Schulfreundes war bei der Stadt Herdecke beschäftigt. Wenn deren Sohn und Jörg Rudat sie mit dem Rad von der Arbeit abholten, gab es erst mal ein Wettrennen. Sieger? „Hing vom Verkehrsaufkommen ab“, erinnert sich Rudat.

Neben der Fahrbahn für die Autos: die Linie 4 auf der Brücke über die Ruhr
Neben der Fahrbahn für die Autos: die Linie 4 auf der Brücke über die Ruhr © WP | Sammlung Göbel/Rudat

Er weiß auch noch, dass damals Verkehrsthemen Zukunftsthemen waren, zumindest im Städtedreieck von Hagen, Wetter und Herdecke. Große Hoffnungen wurden in das Cabinen-Taxi gesetzt, das in Vorhalle auf seine Praxistauglichkeit geprüft wurde. „Das war Unterrichtsgegenstand in der Schule“, sagt Jörg Rudat, und im Elternhaus allemal: Sein Vater war bei der Demag Fördertechnik beschäftigt, die hinter dem Cabinen-Taxi stand. „Da kommt was ganz Modernes“, war damals die Hoffnung.

Längst ist die Extra-Bahn abgebaut, die Begeisterung für die gute alte Straßenbahn aber fährt bei Jörg Rudat und Dirk Göbel ungebremst weiter. Den historischen Wert der letzten Fahrt heute vor genau 50 Jahren haben die Beiden verkannt, die Historie der Linie 4 später dann aber umso exakter nachgezeichnet. Das Zeitalter der vorgespannten Pferde und Akkumulatorenwagen für den Antrieb war gerade zu Ende gegangen, als 1901 die Linie 4 über Eckesey hinaus bis nach Herdecke und später dann bis nach Wengern verlängert wurde.

Vor zehn Jahren: Dirk Göbel (blaues Hemd) und Jörg Rudat stellten im Onikon in Herdecke ihr Straßenbahn-Buch „Mit der Linie 4 von der Volme an die Ruhr – Bitte zusteigen“ vor.
Vor zehn Jahren: Dirk Göbel (blaues Hemd) und Jörg Rudat stellten im Onikon in Herdecke ihr Straßenbahn-Buch „Mit der Linie 4 von der Volme an die Ruhr – Bitte zusteigen“ vor. © WP

Finanziell wollte die Strecke bis nach Wengern nie so richtig ans Laufen kommen. „Die Linie erforderte ständig erhebliche Betriebszuschüsse“, heißt es in einem Beitrag für die Herdecker Blätter von vor zehn Jahren. Im Dezember 1922 stellte die Straßenbahn den Abschnitt Wetter nach Wengern kurzerhand ganz ein. Die Ruhrbesetzung hatte einen durchgehenden Verkehr über Wetter hinaus ohnehin fast unmöglich gemacht. Erst 1925 ging‘s weiter. 65 Minuten brauchte die Straßenbahn für die 13,8 Kilometer von Hagen über Herdecke nach Wengern. Mit 13,5 Kilometern in der Stunde für den Stadtverkehr keine unübliche Geschwindigkeit, für eine Überlandstrecke aber mehr als unattraktiv.

1974 war dann auch der Rest der Linie 4 dran: 1972 war ein Konzept zur Stilllegung aller Straßen der Hagener Straßenbahn beschlossen worden. Da war die Linie in Herdecke bereits ein paar Jahre ein allerletztes Mal gestutzt worden: In den sechziger Jahren war der Endpunkt von der Herdecker Kirche zum Zweibrücker Hof zurückverlegt worden. Parallel zu den Gleisen fuhr auf der Bundesstraße der Bus. Die Linie 4 führte nur noch ein Schattendasein, steht es in den Herdecker Blättern.

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„Die Aufgabe war ein Fehler“, sagt Jörg Rudat, der in Wengern eine Firma hat und Raumplanungsingenieur ist. Kurzfristige Einsparüberlegungen hätten im Vordergrund gestanden. Ziel war die autogerechte Stadt. Erst später sei aufgefallen, dass auch Busse und Bahn mitgedacht werden müssen. So gebe es mittlerweile Städte, die kleiner seien als Hagen, und die dennoch froh wären, an der Straßenbahn festgehalten zu haben.

Für Jörg Rudat ist das Nachdenken über Schienenverkehr „hochpolitisch“, sagt er. Schließlich verbinde ein Straßenbahn nicht nür Städte, sondern auch Menschen. „Wir sind keine Puffer-Küsser und Nieten-Zähler“, stellt er unter Hinweis auf die Bauweise klar und will das mit Dirk Göbel auch zeigen: Im Herbst soll die Linie 4 erneut im Kino Onikon Thema sein, wie bereits zum 40. Jahrestag der Abschiedsfahrt. In den Annalen der Filminitiative heißt es: Der Kinosaal war gleich zwei Mal hintereinander bis auf den letzten Platz besetzt – fast wie eine Straßenbahn an guten Tagen.