Wetter. Die Evangelische Stiftung Volmarstein ist mehr als nur eine Einrichtung der Behindertenhilfe. So will Tabea Esch den besonderen Geist fördern.
Die Evangelische Stiftung Volmarstein hat sich an der Spitze neu sortiert. Einen theologischen Vorstand hat sie nicht mehr, dafür aber ein Theologisches Zentrum. Leiterin ist Dr. Tabea Esch. Wie versteht sie ihre Aufgabe? Wo gibt es Geschichte aufzuarbeiten? Was sagt sie zur Anwohner-Kritik an schreienden Bewohnern einer Pflegeeinrichtung am Herdecker Nacken? Hier das Gespräch im Wortlaut:
Wie sehr war bei Ihrem Theologiestudium der Blick auf das Wirken in einer Gemeinde gerichtet?
Die Vorstellung, mal als Gemeindepfarrerin tätig zu werden, war für mich der Ausgangspunkt des Studiums. Ich hatte dazu auch ein klares Bild: Mein Vater war Gemeindepfarrer, ganz klassisch – ein Ort, eine Kirche, ein Gemeindehaus. Dieses Bild hat mich sehr stark beeindruckt, auch wenn ich als Jugendliche zunächst gedacht habe: Das könnte ich nie.
Wie lange waren Sie jetzt in einer Gemeinde?
Zusammen komme ich auf zwölf Jahre. Zumindest der Ort ist bei mir lange stabil geblieben. Das war Hohenlimburg mit der reformierten Kirchengemeinde, die allerdings in verschiedenen Kooperationen gewesen ist. Die letzten vier Jahre war ich mit einer halben Stelle in zwei Gemeinden und mit der anderen halben Stelle in Wuppertal am Predigerseminar tätig, also in der Ausbildung.
War die Zeit reif für etwas anderes?
Ich habe immer schon gedacht: Mal gucken, was so passiert. Das ist sowieso meine Sicht auf das Leben. Wir können manches planen, aber alles nur bedingt. Die Aufteilung auf drei Orte und zwei Stellen habe ich dann zunehmend als anstrengend empfunden. Da Wuppertal zeitlich begrenzt war, stand ohnehin eine Entscheidung an – zum absolut richtigen Zeitpunkt.
Mussten Sie lange überlegen, als Sie die Stellenausschreibung für die Leitung des Zentrums für Theologie, Diakonie und Ethik bei der ESV gesehen haben?
Das hat mich von Anfang an angesprochen, auch weil mein Vater ebenfalls einmal Geschäftsführer der Diakonie Südwestfalen gewesen ist. Ich dachte, das ist eine Gelegenheit, mal was Neues zu machen, einen anderen Weg einzuschlagen.
Hätten Sie sich auch beworben, wenn die ESV wie in der früheren Konstellation einen Theologischen Vorstand als Leiter der Stiftung gesucht hätte?
Ich hätte mich eher auf die jetzige Stelle beworben als auf ein theologisches Vorstandsamt. Mir scheint, dass ich in der Position, die ich jetzt habe, etwas freier bin. Ich weiß auch nicht, ob ich für diese ganzen operativen Dinge die Richtige wäre. Manchmal heißt es ja, durch die neue Spitzenkonstellation der ESV werde die Theologie geschwächt. Ich dagegen denke: Die Aufgabenteilung und der Austausch von Vorstand und Theologischem Zentrum ist gut und gibt mir ausreichend Gehör.
Die ersten 100 Tage waren sicherlich von Eingewöhnung geprägt. Was hat besonders nachhaltig auf Sie gewirkt?
Es gab viele Begegnungen, ich war auch in den Einrichtungen außerhalb des Stiftungsgeländes. Es gab dabei Situationen, die mich sehr beeindruckt haben. Dazu zählt die enge Verbindung der Mitarbeitenden zu den Menschen, für die sie Sorge tragen. Eine Mitarbeiterin in der Werkstatt für Menschen mit Behinderungen hat gesagt, sie kann sich nichts Schöneres vorstellen, weil alle wie eine Familie leben.
Vor über zehn Jahren hat die ESV die Geschichte der Gewalt im Johanna-Helenen-Heim aufgearbeitet. Ist es jetzt an der Zeit, bei Amtsträgern in der Zeit des Nationalsozialismus genauer hinzusehen?
Als vor kurzem die Studie über sexuellen Missbrauch in der evangelischen Kirche veröffentlicht worden ist, hat man gemerkt, wie wichtig es ist, diese Geschichte aufgearbeitet zu haben, wie gut es war, dass die Stiftung sich das angeschaut hat. Für mich ist das beeindruckend, welche Konsequenzen aus dieser kritischen Betrachtung heraus im Blick auf das Thema Gewaltschutz in der Stiftung gezogen worden sind. Die Aufarbeitung auch für andere Zeitfenster der Geschichte möchte ich mir gerne zum Thema machen. Das steht auf der Agenda.
Sabine Federmann als letzter theologischer Vorstand hat eine wichtige Aufgabe bei der Gewinnung und Schulung von Mitarbeitenden gesehen. Ist das auch Ihr Job?
Es ist auf jeden Fall Teil meiner Aufgabe, zu fragen: Wie können wir Menschen für das Unternehmen gewinnen, was zeichnet uns aus? Dazu zählt für mich, noch mehr die Vielfalt der Menschen in der Stiftung – allein schon von ihrer Herkunft her – wahrzunehmen und sich mit ihnen interkulturell auf den Weg zu machen.
Was macht die Besonderheit einer Diakonischen Einrichtung aus?
Die Menschen, die hier arbeiten wollen, bringen ganz besonders den Blick auf den Nächsten mit, also das, was wir als Nächstenliebe bezeichnen. Das ist nicht gleich christlich, sondern verbunden mit Werten wie Solidarität und einem füreinander da sein. Wer das mitbringt, findet bei der ESV den perfekten Ort zum Arbeiten. Gerade als Pfarrerin habe ich so viele Geschichten von Menschen gehört, von dem, was sie sind und was sie mitbringen, dass ich Räume dafür schaffen möchte, sich davon zu erzählen, Räume für mehr Menschlichkeit.
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Vor einem halben Jahr gab es mit der ESV-Einrichtung am Herdecker Nacken ein großes Problem, weil Nachbarn die Schreie von Bewohnern für unerträglich hielten. Sie waren noch nicht im Amt. Hätten Sie sich sonst als Leiterin des Zentrums für Theologie herausgefordert gefühlt?
Klar. Für mich stellt sich dabei die Frage: Wie kann das sein, wenn wir doch von Inklusion sprechen und von einem gemeinsamen Miteinander? Natürlich muss auch geklärt werden: Was genau stört? Geht es um Angst? Auch dafür muss man sich interessieren – um dann ins Gespräch kommen, zu erfahren, was brauchen vielleicht beide Seiten.