Wetter / Herdecke. Nichts verschwenden: Ein Selbstversuch mit lokalen Händlern, Facebook-Gruppe und der App Too good to go
Von Restaurants, Supermarkt-Regalen oder dem heimischen Kühlschrank direkt in den Abfall: Jedes Jahr landen in Deutschland rund elf Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll. Gleichzeitig gibt es Kampagnen, Food-Sharing-Plattformen, Apps und auch private Initiativen, die der Lebensmittelverschwendung den Kampf ansagen. Doch wie sieht das vor Ort aus? Wie können in Wetter und Herdecke Brötchen, Molkereiprodukte & Co. vor der Tonne gerettet werden? Ein Selbstversuch.
Von Kühlschrankresten bis Buffet-Überbleibsel
Ich starte online bei foodsharing.de, einer Initiative gegen Lebensmittelverschwendung, die 2012 ins Leben gerufen wurde und die - laut eigenen Angaben - mittlerweile 220.000 Nutzer aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zählt. In Wetter und Herdecke scheint es jedoch noch Nachholbedarf zu geben: Auf der Online-Karte sind weder Ortsgruppen noch Essenskörbe oder sogenannte Fairteiler verzeichnet, also Orte, zu denen Menschen Lebensmittel bringen oder auch kostenlos abholen können. Ich schließe die Karte und öffne Facebook. Dort habe ich etwas mehr Glück. Ich finde die Gruppe „Foodsharing Wetter & Umgebung“.
1000 Mitglieder haben sich hier zusammengefunden, um die Kühlschrankreste vor dem nächsten Urlaub oder auch die Buffetüberbleibsel von der Geburtstagsfeier nicht verkommen zu lassen. Ich scrolle mich durch die Posts. Nutzerin Mo Ne verschenkt Yogi Tee Matcha Zitrone, der ihr einfach nicht schmeckt, aber noch gut ist. Hubert Weber hat unter anderem Ostfriesentee, Fondant oder Apfelkuchengewürz abzugeben – und hat schnell einen Abnehmer gefunden. Heute gehe ich hier also leer aus.
Reserviert. Akzeptiert. Abgeholt
Ich versuche es bei der App „Too good to go“ – und habe Glück. In Wetter und Herdecke gibt es an diesem Tag einige der „Überraschungstüten“, die Bäckereien, Supermärkte und auch Restaurants mit unverkauften, überschüssigen Lebensmittel packen und vergünstigt an Selbstabholer abgeben. Die Tüten der Bäckerei Heier in Wengern habe ich an diesem zwar Tag verpasst. Doch die TotalEnergies-Tankstelle nur wenige Meter weiter hat noch zwei im Angebot. Ich klicke auf reservieren, akzeptiere, dass ich mich vom Inhalt der Tüte überraschen lasse und zahle bequem per Paypal: 3,50 Euro statt zehn Euro. Abholzeit: zwischen 17 und 18 Uhr. Wenn alles passt, habe ich mir soeben mein Abendessen gesichert.
Mindesthaltbarkeitsdatum und Verbrauchsdatum
Jeder Bürger in Deutschland wirft laut Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) durchschnittlich 78 Kilogramm Lebensmittel weg. Allein in Privathaushalten landen damit rund 6,5 Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll.
Fast die Hälfte davon wäre noch genießbar gewesen. Denn für fünf Prozent der weggeworfenen Lebensmittel wird das Überschreiten des Mindesthaltbarkeitsdatums (MHD) als Wegwerfgrund angegeben, so das BMEL.
„Das MHD ist ein Qualitäts- kein Wegwerfdatum“, stellt das Ministerium auf einem Flyer zum Thema heraus. Bei richtiger Lagerung könnten die Produkte in den meisten Fällen auch nach Ablauf des MHD gegessen oder getrunken werden.
Anders sieht es bei dem sogenannten Verbrauchsdatum aus: „Das gibt genau an, bis zu welchem Zeitpunkt das Lebensmittel verbraucht werden sollte“, erklärt der BMEL-Flyer: „Leicht verderbliche Lebensmittel, zum Beispiel Hackfleisch und frisches Geflügelfleisch, können durch Keime verdorben und gesundheitsschädlich sein, ohne dass dies mit den eigenen Sinnen wahrgenommen werden kann. Auf diesen Lebensmitteln muss ein Verbrauchsdatum angegeben sein.
Weitere Informationen: www.bmel.de
Pasta mit Farb- und Formenwechsel
Ich scrolle weiter. Auch Pasta Passion in Herdecke ist vertreten. Aber: Die Pasta-Tüten sind ausverkauft. „Die sind immer sofort weg“, bestätigt Inhaberin Sabine Preuten. Seit anderthalb Jahren gibt sie zum Beispiel Mischchargen ab, also Pasta mit Farb- oder Formenwechsel. „Die kann ich nicht zum normalen Preis verkaufen, aber qualitativ sind die Nudeln ja völlig in Ordnung“, so Preuten. Ein Kilo Ravioli sind da zum Beispiel für 8,30 statt 25 Euro zu haben, Bandnudeln für 4,67 statt 14 Euro. Sabine Preuten weiß, dass ihre Überraschungstüten sehr gefragt sind und hat einen Tipp für Foodsaver und Schnäppchenjäger parat: „Die Tüten gehen genau 24 Stunden vor der Abholzeit online.“
Einziges Manko: Mindesthaltbarkeit abgelaufen
Auch im daily-Supermarkt in Wetter ist die Nachfrage hoch. Das zeigt nicht nur mein vergeblicher Versuch, mir eine Tüte „zu sichern“. Das bestätigt auch Inhaber Johannes Braune im Gespräch, während die Mitarbeiterinnen Heike Korte und Emilia Mlynarska-Spillok die Tüten für die nächste Runde packen. „600 Menschen haben daily in der App als Favorit gespeichert, innerhalb von 45 Minuten sind die Tüten ausverkauft“, erklärt Braune. Seit drei Jahren ist der Supermarkt bei der App dabei, etwa zwei Mal im Monat gehen daily-Produkte aktuell dort online. Von Joghurt über Eisbergsalat bis hin zu Milchkaffee: „Es kann alles sein“, sagt Johannes Braune. Der Begriff „Überraschungstüte“ kommt eben nicht von ungefähr. Einziges Manko der Produkte ist dabei oft ein gerade abgelaufenes Mindesthaltbarkeitsdatum. Die Läden können es dann nicht mehr verkaufen, die Menschen aber noch genießen. „Auf diese Weise können wir den Müll auf ein Minimum reduzieren“, betont Johannes Braune, der auch die Tafel mit Lebensmitteln versorgt. „Die Mülleimer sind eigentlich nie voll.“
Gut funktionierendes Netzwerk
Bei Rewe Symalla in Herdecke machen die Tüten für Too good to go „den kleinsten Teil aus“, erklärt Geschäftsführer Christian Symalla. Ein oder zwei Portionen von der Heißen Theke würden jeden Tag über die App vergeben. „Aber sonst haben wir hier in Herdecke auch so ein gut funktionierendes Netzwerk“, erklärt Symalla, der beim Einsatz gegen die Verschwendung von Lebensmitteln eng mit dem Brotkorb der Stadt und dem Haus Ende Syburg zusammenarbeitet. „Nichts, was noch irgendwie verwertbar ist, kommt in die Tonne“, betont er.
Überraschungstüte rettet das Abendessen
Mittlerweile ist es spät und Zeit für mich, selbst Lebensmittel vor dem Müll zu retten. Im Verkaufsraum der Tankstelle zücke ich mein Handy, öffne die App. Zwei Klicks später habe ich meine Tüte in der Hand, sieben Euro gespart und insgesamt drei Kilo CO2-Äqivalente (eine Einheit zur Messung der Auswirkung unterschiedlicher Treibhausgase) vermieden. Das entspricht wiederum zehn Tassen heißen Kaffee und neun Minuten heiß duschen, wie mir die App verrät. Bekommen habe ich dafür fünf Brötchen, belegt mit Ei, Fleischwurst, Käse und auch Speck. All das landete nicht im Abfall. Und gleichzeitig ist mein Abendessen gerettet – und mein nächstes Frühstück gleich mit.