Herdecke. Serie Begegnungen und der Markt als Treffpunkt: Vor oder nach einem Bummel durch die Fußgängerzone in Herdecke plaudern im Bistro einige Herren.

Wer sich der Identität der Kleinstadt Herdecke nähern möchte, besucht am besten den Wochenmarkt am Donnerstag im Zentrum. Hier treffen sich Hinz und Kunz, Müller und Meier, Schmidt nicht zu vergessen. Vor allem Senioren genießen einerseits den Gang durch die dann beengte Fußgängerzone, um sich neben den Verkaufsständen neue oder alte Geschichten aus dem Städtchen zu erzählen. Andererseits ist somit quasi ein natürliches Zeitfenster vorhanden, die Terminfindung und Verabredung ergibt sich dadurch automatisch.

Das gilt beispielsweise für die Donnerstagsrunde. Nomen est omen. Wenn Markt ist, trifft sich am späten Vormittag fast ein Dutzend Herdecker, um im Bistro Panorama am Stiftsplatz einen Schluck zu trinken. Und um zu plaudern. Und das im lockeren Ton, wie Gäste gleich feststellen können. „Wir haben hier bei uns auch ‘Ausländer’ aus Wetter, Hagen oder sogar Berlin sitzen“, heißt es aus der Gruppe. „Frotzeln ist uns sehr wichtig. Man braucht hier angesichts der vielen Sprüche gute Nerven“, sagt Eberhard von Gagern, der als aktiver Unterwasser-Fotograf hier den Spitznamen „Der Taucher“ erhalten hat.

Früher auch Frauen, heute nur Männer

Seit ungefähr 15 Jahren existiert die Donnerstagsrunde, zu der ausschließlich Männer und Rentner gehören. Das habe sich einfach so entwickelt. „Wobei gelegentlich auch Damen dazu stoßen.“ An einem kleinen runden Ecktisch im „Pano“ fing es damals mit fünf oder sechs Leuten an. „Unsere Frauen saßen, wir standen. Im Laufe der Zeit kamen immer mehr Bekannte dazu“, sagt Ernst Stippich, der wie sein Bruder Heinz von Beginn an dabei ist.

So entstand aus verschiedenen Charakteren (darunter Musiker, Ingenieure, Polizisten, Akademiker, sogar Adelige und Parteimitglieder, wie es augenzwinkernd heißt) eine „illustre Runde“, wie sich die Herdecker selbst bezeichnen. Als Letzter stieß vor zweieinhalb Jahren Wilhelm Schneider über seinen Bruder Ralf dazu. „Ich habe mich in der Gesellschaft hier von Anfang an wohl gefühlt“, sagt er. Drei Mitglieder dieses Stammtisches sind in der Zwischenzeit verstorben. Aktuell strebt der jüngste Senior der Truppe die Altersgrenze 70 an, viele haben die 80 hinter sich gelassen.

Zur Serie „Wie wir uns wiedersehen“

Unser Miteinander hat sich in den letzten anderthalb Jahren in vielen Bereichen des täglichen Lebens verändert. Vom Büro, über den Besuch im Supermarkt, bei Freunden oder in der Kneipe: Viele von uns begegnen sich anders, oft vorsichtiger als zuvor.

Manche Arten der Begegnung haben sich durch Corona von Grund auf verändert, andere waren schon dabei, sich zu verändern und Corona hat diesen Prozess weiter beschleunigt.

Mit eben diesen „Begegnungen im Wandel“ befasst sich unsere große Serie „Wie wir uns wiedersehen“. In den nächsten Wochen berichten wir davon, wie sich das Miteinander in unserer Heimat verändert hat – vielleicht sogar für immer.

Begleitend wollen wir von Ihnen wissen, wie sich Ihre Begegnungen verändert haben, was Sie in diesem Zusammenhang vermissen oder sich wünschen. Hier können Sie teilnehmen waz.de/nrz.de/
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Alle Serienteile finden Sie gesammelt auf unserer Homepage unter waz.de/nrz.de/wp.de/wr.de/ikz-online.de/begegnungen

Wichtig ist allen: „Hier herrscht kein Zwang zum Treffen. Wer kommt, kommt. Sonst halt nicht.“ Hat jemand Geburtstag, ertönt schon mal aus dem Akkordeon Musik – und alle singen ein Ständchen. Oder mehr. Bei gutem Wetter draußen, sonst im gemütlichen Bistro. Auch ein Hund hat es sich hier unter einem Tisch bequem gemacht.

Und dann kam Corona. Das nette Beisammensein fiel aus, das Panorama musste ja auch schließen. „Wir haben in der Zeit oft telefoniert und uns über WhatsApp auf dem Laufenden gehalten.“ Als die Gaststätte am Stiftsplatz im Frühsommer 2021 wieder öffnen durfte, war die Donnerstagsrunde sofort wieder zur Stelle. „Die Pandemie ist bis heute beklemmend. Immerhin dürfen wir zum Trinken die Maske abnehmen“, heißt es in einer Mischung aus Ironie und Ernsthaftigkeit. Alle genossen die ersten Zusammenkünfte, die bewährte Fröhlichkeit war wieder da. Die zeige sich nicht nur an Karneval oder Nikolaus, wenn sich die Herren Pappnasen oder ihre mit den jeweiligen Namen bestickte Zipfelmütze aufsetzen.

Gravierende Corona-Auswirkungen

Der Arzt Dr. Klaus Imle fasst das Beisammensein so zusammen: „Wir sind hier nicht immer einer Meinung, gehen aber stets so auseinander, dass wir uns in die Augen sehen können.“ Nachdenklich wirkt er, wenn er über die Folgen der Pandemie spricht. „Der Kontakt unter den Menschen – das ist mit das Wichtigste im Leben. Corona ist nicht nur ein medizinisches, sondern auch ein psycho-soziales Problem mit gravierenden Auswirkungen.“

Zurück zum Markt. „Ich bin erst wegen dem fast immer donnerstags nach Herdecke gekommen“, erzählt Dieter Bastigkeit aus Wetter, ein Urgestein der Donnerstagsrunde. „Das Angebot an den Ständen ist sehr abwechslungsreich, die Händler sind freundlich.“ Prof. Dr.-Ing. Karl Volling, der aus Braunschweig stammt, hatte hingegen bis ins Jahr 2002 berufsbedingt den Wochenmarkt noch nie besucht. „Erst als Rentner bin ich das erste Mal an einem Donnerstagmorgen durch die Fußgängerzone hier gegangen“, erzählt der ehemalige Demag-Ingenieur, der durch seinen Freund Dieter zum Stammtisch kam.

Nur Corona und ein „Lockdown“ können diese Zusammenkunft verhindern. Zur Donnerstagsrunde, die sich stets zum Wochenmarkt im Bistro Panorama am Stiftsplatz trifft, gehören diese Herren im besten Alter: (von links) Eberhard von Gagern, Dieter Bastigkeit, Willi und Ralf Schneider, Ernst und Heinz Stippich, rechts Karl Volling und vorne Klaus Imle. Nicht auf dem Bild: Werner Koch und Rolf Lüder.
Nur Corona und ein „Lockdown“ können diese Zusammenkunft verhindern. Zur Donnerstagsrunde, die sich stets zum Wochenmarkt im Bistro Panorama am Stiftsplatz trifft, gehören diese Herren im besten Alter: (von links) Eberhard von Gagern, Dieter Bastigkeit, Willi und Ralf Schneider, Ernst und Heinz Stippich, rechts Karl Volling und vorne Klaus Imle. Nicht auf dem Bild: Werner Koch und Rolf Lüder. © WP | Steffen Gerber

Herdecker dagegen wissen den Wochenmarkt seit ewigen Zeiten zu schätzen. Rolf Lüder zum Beispiel hat festgestellt, dass das Verkaufsangebot unter freiem Himmel auch während der Pandemie stets viel anlocke. „Ich gehe manchmal um 10 Uhr los, um dann gegen 11 Uhr im Panorama zu sein. Mitunter braucht es schon eine Stunde für die kurze Strecke, man trifft halt oft Freunde und Bekannte, bleibt stehen und hält ein Pläuschchen.“

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Das kann Eberhard von Gagern bestätigen. „Der Herdecker Wochenmarkt ist auch im Umkreis sehr beliebt.“ Die Wetteraner am Tisch nicken lautstark.

„Nur Besorgungen, kaum Gespräche“

Corona wirkte sich auch auf den Markt aus, obwohl dieser stets stattfand. „In den vergangenen Monaten blieben deutlich weniger Leute stehen, um sich miteinander zu unterhalten“, sagt Philipp Schnückel, dessen Familie seit Jahrzehnten einen Obst- und Gemüsestand in Herdeckes Fußgängerzone aufbaut. „Erst seit Kurzem beobachte ich wieder vermehrt Leute, die den Markt als Treffpunkt betrachten.“

Philipp Schnückel, dessen Familie seit Jahrzehnten auf dem Wochenmarkt einen Obst- und Gemüsestand in der Herdecker Fußgängerzone betreibt
Philipp Schnückel, dessen Familie seit Jahrzehnten auf dem Wochenmarkt einen Obst- und Gemüsestand in der Herdecker Fußgängerzone betreibt © Steffen Gerber

Der Händler schaut in Pandemiezeiten aus zwei Blickwinkeln auf den Wochenmarkt. „Was das Thema Verkauf betrifft, sind bei uns hier in den vergangenen eineinhalb Jahren die Umsätze hochgegangen.“ Als Kantinen sowie Gaststätten schließen mussten und im Homeoffice viele mehr Zeit für gesundes Kochen hatten, sei die Nachfrage bei den Schnückels gestiegen. „Viele kamen aber nur zwecks Besorgungen an die Stände, erst seit dem Herbst schlendern wieder vermehrt Leute durch die Fußgängerzone und suchen Gespräche mit anderen.“