Herdecke. Ohne das Gerichtsurteil abzuwarten, arbeitet Netzbetreiber Amprion in Herdecke an der Stromtrasse. Und setzt Grundstücksbesitzer unter Druck.

Wenn Dr. Michael Füllkrug aus dem Fenster seiner Wohnung schaut, sieht er einen „nackten“ Strommasten. An diesem hingen vor einigen Tagen noch Leiterseile. Das ist nicht mehr der Fall. Immer mehr zeigt sich im Stadtgebiet, wie der Netzbetreiber Amprion seine von der Bezirksregierung genehmigte 380-Kilovolt-Höchstspannungsfreileitung vorbereitet. Dabei steht das Urteil zu einer Klage, mit der Herdecker Bürger am Bundesverwaltungsgericht Leipzig den Bau dieser Trasse verhindern wollen, noch aus.

Das ist ein zentrales Thema, über das sich Füllkrug als Vorsitzender von Haus und Grund Herdecke/Ende mit Vereinsmitgliedern immer wieder unterhält. Zumal Amprion hiesige Grundstücksbesitzer in der jüngeren Vergangenheit mehrfach angeschrieben hat, um auf verschiedenen Flächen Dienstbarkeiten zu beantragen. „Die haben wegen der Inanspruchnahme meines Grundstücks ganz schön Druck ausgeübt und wollen das notfalls mit rechtlichen Mitteln durchsetzen“, sagt eine Anwohnerin (Name der Redaktion bekannt), auf deren Areal bereits ein Strommast steht.

Abwarten und Rechtsstaat vertrauen

Sie und Hannemarie Schüren – auf eine bisher unbebaute Wiese ihrer Familie will der Netzbetreiber einen neuen Masten setzen – haben noch keinen Vertrag unterschrieben sowie Haus und Grund um Rat gefragt. Der ehemalige Oberstaatsanwalt Füllkrug hat Amprion im Namen des Vereins einen Brief zugeschickt. Mit den beiden Damen ist er sich einig: „Wir wollen vor der Einverständniserklärung bezüglich der Grundstücke erst den Gerichtsprozess in Leipzig abwarten, das ist legitim in einem Rechtsstaat. Dem Urteil werden wir uns dann klaglos unterwerfen. Wir sind per se keine Verhinderer oder Öko-Spinner.“

Auf dem Schnee ist ein Mast ist bereits „nackt
Auf dem Schnee ist ein Mast ist bereits „nackt", Leiterseile wurden hier abmontiert © Steffen Gerber

Alle Drei sehen keine besondere Dringlichkeit zur sofortigen Vollziehbarkeit und haben auch ihr Interesse an einer einvernehmlichen Lösung bekundet, um eine vorzeitige Besitzeinweisung und einen Rechtsstreit zu verhindern. Als beispielsweise Anfragen zu Probebohrungen auf dem jeweiligen Grundstücke eintrafen, gewährten die Besitzer dies. „Wir wollen ja keinen Kleinkrieg.“ Nun aber erhielt Familie Schüren ein Schreiben mit einer Fristsetzung und der Androhung eines bereits terminierten Verfahrens.

Hier ein Gerüst, dort eine Baustelle: Grundsätzlich stört das Herdecker Trio, dass der Netzbetreiber schon vor dem Richterspruch Fakten schafft (zum Beispiel Bäume fällt) und wertet das als eine Art „Missachtung des höchsten deutschen Verwaltungsgerichts“. Auch wenn sich bei einem Richterspruch zugunsten der Herdecker womöglich manche Maßnahmen wieder rückgängig machen ließen, so werde doch viel Zeit ins Land gehen, ehe etwa das Wiederaufforsten Früchte trägt. Auch der Kontakt zu Amprion sei nicht gerade problemlos. „Ich habe sieben Schreiben mit vier verschiedenen Ansprechpartnern erhalten und bekam mittlerweile drei verschiedene Angebote. Weiß die eine Hand, was die andere tut? Und von mir beantragte Fristverlängerungen lehnte man ab“, sagt die Grundstückseigentümerin. Alle Drei betonen ihre Verhandlungsbereitschaft, finanzielle Entschädigungsfragen und die Höhe einer Ausgleichssumme stehen für sie demnach nicht im Vordergrund.

75 Meter hoher Mast auf grüne Wiese

Auch Hannemarie Schüren fühlt sich in der komplexen Angelegenheit gelegentlich überfordert. „Zunächst einmal war vor Jahren überhaupt nicht klar oder absehbar, was hier in welcher Dimension passieren soll und dass auch wir von dem Trassenbau betroffen sein könnten.“ Anfang 2020 soll das Errichten eines 75 Meter hohen Masten auf ihrem Grundstück (für dieses besteht laut Grundbuch bisher nur ein Leitungsrecht) beginnen, erfuhr die Familie. Die soll somit quasi eine doppelte Dienstbarkeit erlauben, zumal auch weiterhin Leiterseile über ihr Areal führen.

Während die drei Herdecker aus ihrer Sicht mit offenen Karten spielen, bleibt bei ihnen in vielfacher Hinsicht ein mindestens ungutes Gefühl. Die dazugehörigen Stichworte: Angst und Sorge wegen Auswirkungen der elektromagnetischen Felder (Füllkrug: „Die 380-Kilovolt-Leitungen sind sicher nicht gesundheitsfördernd“), die irritierende Haltung mancher Politiker, die Entwertung ihrer Grundstücke bis hin zu einer Beinahe-Enteignung oder das kürzlich vorgestellte Gutachten mit Zweifeln an der Notwendigkeit der Trasse. Immerhin bietet der Austausch mit anderen Betroffenen oder Nachbarn etwas Trost, um nicht alleine mit der komplizierten Materie dazustehen. „Früher haben wir uns noch mehr geärgert“, sagen die beiden Herdeckerinnen, die die Unterstützung durch Haus und Grund loben. „Wir stehen das gemeinsam durch, wir müssen ja auch als Laien mit dem Thema umgehen.“

Die Mast-Pläne des Netzbetreibers

Der Netzbetreiber Amprion will von Dortmund-Kruckel bis Dauersberg in Rheinland-Pfalz eine vorhandene Trasse ausbauen und die 380-Kilovolt-Freileitung 2023 in Betrieb nehmen. Die Bezirksregierung hat 2018 den ersten Abschnitt über Herdecke bis Hagen-Garenfeld genehmigt, die Klage zu diesem Teilstück wird am 12. Dezember in Leipzig verhandelt.

Laut Amprion-Unterlagen plant der Netzbetreiber mit 23 Masten weniger als bisher: 34 Gerüste in Herdecke mit Leiterseilen werden abgebaut, elf neue kämen hinzu.

Zudem soll in Ende an der Stadtgrenze zu Witten die 1,4 Kilometer lange 220-Kilovolt-Trasse am Kermelberg/Appelsiepen komplett angebaut werden.