Hagen. Es war ein erschreckendes und zugleich bewegendes Treffen. Erschreckend wegen ihrer Geschichten. Bewegend, weil alle Männer und Frauen sich hier eindrucksvoll gegen ihre Sucht erhoben haben. Ein Besuch bei den Anonymen Alkoholikern in Hagen. Zum 50-jährigen Jubiläum.
„Hallo, mein Name ist Mike. Ich bin kein Alkoholiker. Das letzte Mal, dass ich Bier getrunken habe, ist drei Tage her. Das letzte Mal, dass ich richtig einen sitzen hatte, ist mehrere Wochen her. Wenn ich Alkohol trinke, dann aus Geselligkeit. Ich löse damit keine Probleme. Ich bewältige damit keinen Frust. Und nach einer durchzechten Nacht zwingt mich kein unstillbarer Durst wieder zum Bierkasten. Mein Körper und mein Geist brauchen keinen Alkohol.“
Die 15 Menschen, die mich anblicken, als ich diese Sätze sage, nicken verständnisvoll. Ich habe ein Trinkverhalten beschrieben, nachdem sich viele hier jahrelang gesehnt haben. Kontrolliert. Dann und wann auch mal über die Stränge schlagend. Aber nie zum Zweck. Nie, weil man es braucht. Keine Teufelskreise. Keine Abhängigkeit.
Einblick in die Seele
Was ich an diesem Mittwochabend in einem Hinterhof der Mariengasse erfahre, ist Intimität. Die Männer und Frauen, die mich in ihre Runde eingeladen haben, ziehen sich seelisch vor mir aus. Sie berichten von Exzessen. Von Rausch-Orgien. Von Wesensveränderungen. Sie alle sind Alkoholiker. Und sie alle sind trocken. Akademiker. Hohe Tiere. Hausfrauen. Angestellte. Väter. Mütter. Die Runde ist ein Spiegel der Gesellschaft und immer noch nur eine Armlänge vom Rückfall entfernt.
50 Jahre wird die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker jetzt alt. Bei ihrem letzten Treffen durfte ich dabei sein.
Überwältigende Disziplin
Irgendwann, als Rainer, Marion, Petra und Heidi (alle Namen geändert) mit Erzählen fertig waren, habe ich den Block an die Seite gelegt und durchgeatmet. „Zu viel, ne?“, hat Rainer gefragt. Nein, nicht zu viel. Aber bedrückend. Und zugleich überwältigend. Denn so sehr ihre Geschichten einen umhauen, so sehr macht einen die Tatsache sprachlos, dass sie alle sich aus ihrem eigenen Desaster befreit haben und der Sucht mit ihrem Geist, ihrer Kraft und Disziplin, aber vor allem ihrer Gemeinschaft Einhalt gebieten. Mit schonungsloser Ehrlichkeit und einem gemeinsamen Ziel: nie wieder einen Tropfen.
Platzen vor Verlangen
Heidi ist erst seit zehn Monaten hier. Ihr Appetit auf Alkohol ist immer noch stark. Manchmal erwischt sie sich, wie sie vor den Weinflaschen im Supermarkt herumtänzelt und innerlich vor Verlangen zu platzen scheint. „Mein Tiefpunkt war der Verlust des Führerscheins“, sagt sie. Sie ist besoffen mit ihrem Kind an Bord erwischt worden. Ein Jahr lang muss sie ihre Abstinenz mit Urinproben nachweisen. Sie zittert vor der MPU. Ihr Vater ist Alkoholiker. Ihr Bruder sogar im Endstadium. Der Suff hat seinen Verstand schon fast in die Unbenutzbarkeit überführt.
Immer wieder kommen – das ist das Erfolgsgeheimnis
Petra hat mit 14 angefangen, Alkohol in sich hinein zu kippen. Sie war von Schnaps jahrelang so zugedröhnt, dass sie die tägliche Schlagzeile der Bild-Zeitung dreimal gelesen, aber nicht mehr verstanden hat. Als sie das erste Mal zum AA-Treffen in Hagen kam, hatte sie sich drei Wochen die Haare nicht gewaschen und stank bestialisch. „Und die sagen mir hier. Margitta, wir machen das schon. Komm wieder.“ Sie ist immer wieder gekommen.
So erzählen sie weiter. Marion wollte irgendwann kein Bier mehr, sondern den reinen Vollrausch. Dieter verlieh der Alkohol die Fähigkeit, seine Probleme zu lösen. Oder besser: zu vertagen. Rainer hat „weiter geballert“, wenn andere am nächsten Tag ihren Kater ausgeschlafen haben und konnte irgendwann nicht mehr mit, aber auch nicht ohne Alkohol leben. Von da bis in den Tod sind es nur noch wenige Bier.
Vorbeischauen ist an jedem Tag in der Mariengasse möglich
Die Anonymen Alkoholiker haben ihre Räumlichkeiten in Hagen in der Mariengasse 6 a. Treffen gibt es an jedem Abend. Mittwochs in größerer Runde. Es gibt auch eine kleine Bibliothek der Gemeinschaft dort.
Es gibt keine Mitgliedsbeiträge, keine Verpflichtungen. Die Alkoholiker nennen sich beim Vornamen und folgen den zwölf Regeln und Traditionen der Anonymen Alkoholiker weltweit.
Wie kommt man da raus? Wie durchbricht man den Bann der Sucht? „Durch die Anonymen Alkoholiker“, sagt Rainer. Alle nicken. „Wir sind keine Versager. Wir sind krank. Und wir gegenseitig sind es, die uns zurück in die Spur gebracht haben.“
Die, die draußen im Halbdunkel vor dem Eingang in der Mariengasse umherschleichen, weil sie die Menschen sehen wollen, die hier einkehren, könnten die nächsten sein, die die Gemeinschaft wieder aufrichtet. „Wir sind alle da draußen rumgelaufen und haben uns nicht getraut, reinzukommen“, sagt einer, „doch wenn du den Schritt gehst, erkennst du, dass du einer unter Gleichen bist und hier keine Penner, sondern Menschen aus allen Schichten sitzen.“
Wie hört man auf?
Wie genau zwischen Gemeinschaft, den zwölf Regeln und zwölf Traditionen der AA und anfänglichen Rückfällen der Impuls zum Aufhören entsteht, können sie alle nicht beantworten. „Es passiert aber. Es passiert, wenn du dranbleibst, wenn du wieder kommst.“
Margitta hat mir ein kleines Klappheft in die Hand gedrückt. Darin steht: „Es gibt in jeder Woche zwei Tage, die wir frei halten sollten von Angst und Bedrückung. Einer dieser Tage ist Gestern, mit all seinen Fehlern und Sorgen. Der andere ist das Morgen, mit seinen möglichen Gefahren und Lastern. Bleibt nur ein Tag: heute. Jeder Mensch kann nur die Schlacht von einem Tag schlagen. Nur für heute will ich glücklich sein. Nur für heute will ich mich nach den Tatsachen richten.“
Tägliches Streben nach Disziplin
Sie alle hier sind trocken. Das ist das Resultat ihres täglichen Strebens danach, das Heute zu einem guten Tag werden zu lassen. „Hier sitzen die, die es verpasst haben, sich tot zu saufen“, sagt Stefan, „und gleichzeitig die, die damit eine Chance nutzen wollen.“
Als ich gehe, huscht ein Mann draußen durch die Mariengasse. Er fühlt sich ertappt. Dabei ist es das falscheste Gefühl, das in ihm aufkommen sollte. Er sollte reingehen, sich vorstellen und den ersten Schritt ins neue Leben machen.